Das Magazin „Vice“ expandiert: Was junge Menschen bewegt
Sex, Drogen und Gewalt sind die Kernthemen von Vice. Aber auch Rassismus und Feminismus. Tom Littlewood will das Magazin politischer machen.
BERLIN taz | Herr Littlewood, gibt es eine Medienkrise? Der Vice-Chefredakteur lächelt. Er sitzt im sogenannten Burn Out Room, auf einer Eckcouch aus grünem Samt. Die Wände sind schwarz, die Möbel aus dunklem Holz. Kate Moss schaut verführerisch von einem überdimensionalen Cover des Modemagazins I-D, das Vice vor zwei Jahren übernommen hat.
„Ich glaube, es kommt darauf an, wen du fragst,“ sagt Tom Littlewood mit einem dezenten britischen Akzent. „Wenn du mich fragst: Nein. Bei Vice gibt es keine Medienkrise.“
Unkritisch. Pauschalistisch. Inhaltsleer. So könnten die ersten Begriffe lauten, die einem klassisch ausgebildeten Journalisten zu Vice einfallen. „Zynismus“ käme einem noch in den Sinn beim Browsen durch das Webmagazin, in dem man neben Videoreportagen aus dem syrischen Bürgerkrieg Artikel mit Überschriften wie: „Ich habe mir Kokain in den Arsch blasen lassen, damit ihr es nicht tun müsst“, findet.
Ja, man kann dem Magazin so einiges vorwerfen. Eines aber nicht: Irrelevanz.
Der eine will sich einen Bart wachsen lassen, doch es wächst noch nicht mal Flaum. Der andere schwor in Syrien schon den Treueeid auf den IS. Wie zwei junge Islamisten vom Märtyrertod träumen, der eine vor dem Rechner, der andere vor Gericht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. November 2014. Außerdem: Die Menschen in der Republik Moldau sind hin- und hergerissen zwischen Russland und der EU. Protokolle von fünf Moldawiern vor der Parlamentwahl am Sonntag. Und: Was passiert eigentlich auf Gangbang-Partys? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Denn während andere Medienhäuser massenweise Stellen abbauen müssen, expandiert Vice. Vor zwanzig Jahren als skurriles Punk-Fanzine von drei Kanadiern gegründet, hat sich Vice inzwischen zum globalen Medienunternehmen mit weltweit 35 Büros entwickelt. HBO, ZDF und ProSieben kaufen bei Vice TV-Produktionen ein. Zeit Online schmückt sich neuerdings mit Zweitveröffentlichungen von Vice-Artikeln und -Video-Content. Man könnte sagen: Das einstige Krawallblatt ist voll Mainstream geworden. Man kann es aber auch umdrehen: Vielleicht will der Mainstream heute einfach so sein wie Vice.
Aus Platzgründen ist die Berliner Redaktion vor fünf Monaten vom Rosenthaler Platz weggezogen, in eine ehemalige Zigarettenfabrik in Mitte, mit Blick auf die Spree. Die Redaktionsräume sind schlicht eingerichtet. Von dem Weiß der Wände und dem Grau der Betonböden heben sich allenfalls ein paar persische Teppiche, die Regalwände voller Vice-Hefte und die leuchtenden Apple-Logos ab. Ein junger Mann nutzt den langen Flur zum Skateboardfahren und stürzt hin. „Alles okay?“, fragt jemand. „Alles gut!“ Ansonsten ist es seltsam still in der Redaktion. Man hört fast nichts außer dem Tippen fleißiger Hände.
Die Marke wächst
Die Digitalisierung von Medieninhalten zwingt viele Redaktionen zur Umstrukturierung von Systemen, die seit vielen Jahren bestehen. Für ein junges Blatt wie Vice, das sich schon immer über die Experimentierfreude mit Inhalten definierte, war der Weg zum Internet kein Problem – im Gegenteil. Herausgeber Benjamin Ruth brachte Vice 2005 nach Deutschland und fing mit fünf Mitarbeitern an.
Eine Auflage von 100.000 Exemplaren des werbefinanzierten Printmagazins liegt seither gratis in Modegeschäften, Galerien und Plattengeschäften aus. Der große Erfolg kam aber erst mit der Webpräsenz. Die Vice ist in Deutschland inzwischen auf 100 Mitarbeiter angewachsen, es sind Fachportale mit eigenständigen Redaktionen hinzugekommen wie die Musikplattform Noisey oder die Wissenschaftsplattform Motherboard. Im Frühjahr werden zusätzlich Vice News und Vice Sports erscheinen.
Den Erfolg von Vice bestimmen allem voran zwei Dinge: der Austausch von Artikeln und Videos zwischen den internationalen Büros – deutsche Exportschlager sind Reportagen über Rechtsradikale und Flüchtlinge – sowie eine relativ junge Zielgruppe. Letztere ist zwischen 18 und 34 Jahren alt, bewegt sich gern im digitalen Raum und interessiert sich für Themen wie Fashion Shows im Iran und Rettungssanitäter in Guatemala.
Chefredakteur mit 23
Vice bringt sie in Form von zehnminütigen Videoreportagen. Die Redakteure, die sich täglich auf die Suche nach diesen Vice-spezifischen Geschichten begeben, sind im Durchschnitt 28 Jahre alt. Die Hälfte von ihnen ist weiblich. Frauenquote? Chefredakteur Littlewood schüttelt sanft den Kopf: „Wir entscheiden uns für einen Mitarbeiter nicht aufgrund des Geschlechts, das spielt keine Rolle für uns.“
Tom Littlewood macht sich lieber Gedanken darüber, was junge Menschen bewegt. Nach einem Studium der deutschen und französischen Literatur im englischen Cambridge wurde er 2008 zum Chefredakteur der deutschen Vice – da war er 23. Littlewood spricht sehr leise, sein Flüstern hat etwas fast Meditatives. Und er trägt einen Schnauzbart, den er sehr lieb hat. Während des Gesprächs streicheln Zeigefinger und Daumen unentwegt den Bart zurecht.
„Wir wollen keine reine Meldungsseite sein, die die gleichen Nachrichten wie alle anderen bringt, nur in einer anderen Sprache. Das wäre zu kurzsichtig gedacht“, sagt Littlewood über das geplante Nachrichtenportal Vice News, das es als US-Version bereits gibt. Der deutsche Ableger startet mit sechs neuen Mitarbeitern, die Erfahrung mitbringen, aber zugleich „die Marke Vice verstehen“.
Braver und objektiver?
Die Themen, mit denen Vice sich in Vergangenheit profiliert hat (Sex, Drogen, Gewalt), werden wohl weiterhin verfolgt und nachrichtlich aufbereitet werden. Doch kann es durchaus sein, dass neue Themenbereiche hinzukommen, bei denen man bisher nicht an Vice dachte. Wieso sollten Leute ihre Nachrichten bei Vice lesen, und nicht woanders? „Es wird der spezielle Zugang sein, der Vice weiterhin ausmacht“, erklärt Littlewood. „Wir erzählen unsere Geschichten über Personen, sodass recht schnell ein emotionaler Bezug zum Protagonisten und somit zum Thema geschaffen wird. Wir versuchen über Menschen eine Relevanz zu schaffen, nicht über Fakten. Es ist nicht in unserem Sinne, zu sagen: Das ist jetzt wichtig für euch!“
Ob Vice News das Experiment wagen wird, in einem objektiveren Duktus zu sprechen, will Littlewood nicht verraten. In den üblichen Vice-Artikeln dominiert nämlich zumeist ein meinungsstarkes Ich, während der eigentliche Gegenstand des Artikels schnell zur Nebensache wird. Bei vielen Vice-Videoreportagen hingegen ist es umgekehrt.
Für eine Videoreportage aus dem syrischen Raqqa, dem Hauptquartier des sogenannten Islamischen Staates (IS), hatte Vice im vergangenen Sommer viel Kritik geerntet. Zwar hatte keine Redaktion auf der Welt vergleichbares Material – das Kamerateam begleitete IS-Funktionäre auf Streifzügen und durfte Gefangene interviewen –, doch wurde das Gezeigte kaum kommentiert, sodass viele Zuschauer in der Reportage einen IS-Propagandafilm sahen.
Ein ähnliches Beispiel von Anfang November ist das Interview mit dem deutschen Salafisten Sven Lau, der sich darin als friedfertiger, gar lustiger Zeitgenosse inszeniert. Natürlich habe man sich gefragt, so Littlewood, ob man es verantworten könne, jemanden, der gefährlich für die Gesellschaft sein könnte, unkommentiert sprechen zu lassen. Man habe viel darüber nachgedacht, wie und wo man schneidet, um ein ehrliches Porträt von diesem Menschen abzugeben. Und ja, sagt Littlewood, er empfinde diesen konkreten Fall als vertretbar. Er traue seinen Zuschauern viel zu.
Politisierung der Inhalte
„Bei anderen Reportagen zum Thema Salafismus, vor allem in Deutschland, geht ein Reporter hin und weiß schon ganz genau, wie er diese Person aussehen lassen will, und stellt Fragen, bis er dieses Bild von der Person hat, das er haben wollte, und dann geht er wieder weg. Das versuchen wir zu vermeiden. Wir erklären Leuten nicht, was sie zu glauben haben“, sagt Littlewood. Und doch zeichnet sich in den letzten Jahren eine deutliche Politisierung der Inhalte ab. LGBT, Rassismus, Feminismus gehören inzwischen zu den Kernthemen von Vice. In Reportagen über die AfD oder die kurdischen Aufstände in Istanbul positioniert sich Vice unmissverständlich gegen Konservatismus. Ist Vice ein linkes Blatt? Tom Littlewood lächelt wieder.
Nein, sagt er entschieden, Vice wolle sich von jeglicher politischer Lobbyarbeit distanzieren und sich zu jedem Thema eine eigene Meinung bilden. „Konservatismus finde ich gefährlich, ja“, erklärt Littlewood und hält kurz inne. „Aber vor allem den Konservatismus in den Medien. Zu sagen, das und das bringen wir nicht, weil es nicht in unser Weltbild passt, das ist nicht unsere Art. Ich glaube, für die meisten Menschen sieht die Welt auch einfach nicht so aus.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen