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Das Lebensprinzip „Freischwinger“

Das Berliner Bauhausarchiv präsentiert Marcel Breuer zu seinem 90. Geburtstag  ■ Von Martin Kieren

Die minimale Ausstattung für ein Zimmer, in dem es sich leben und arbeiten läßt, besteht aus einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Das Bett kann notfalls aus einer zusammengerollten Matratze bestehen oder ein Lager aus Heu und Stroh sein. Der Tisch besteht hauptsächlich aus einer Platte mit Beinen oder einem sonstwie gearteten Untergestell: die Stabilität ist entscheidend für diese Konstruktion.

Am Stuhl versuchen sich mit Vorliebe Architekten. Fast jeder Student sieht sich irgendwann mit der Frage beschäftigt: Wie sieht mein Stuhl aus? Als Vorbild für den modernen Architekturunterricht dient vielen Hochschulen — in den ersten Semestern zumindest — nach wie vor die von Walter Gropius ab 1919 am Bauhaus Weimar entwickelte Bauhauspädagogik mit ihrer Grundlehre und den Werkstätten: kennenlernen von Materialeigenschaften, basteln als Grundprinzip — learning by doing.

Der am 22.Mai 1902 in Ungarn geborene Marcel Breuer kommt 1920 ans Bauhaus, beginnt hier seine Tischlerlehre und bastelt irgendwann aus Holzlatten einen Stuhl. Er heißt auch heute im Museum noch so: „Holzlattenstuhl“. Eine ziemlich romantische Angelegenheit: senk- und waagerecht, also nur im rechten Winkel zueinander verlaufende Latten, an drei Stellen mit Stoff bespannt, einmal für den Hintern, zweimal für den Rücken. „Man sitzt schlecht“, schreibt George Grosz.

Und so ganz unrecht kann er nicht haben: Der Anblick ist nicht gerade einladend, und keine Designerfirma hat dieses Möbelstück bisher nachgebaut. Aber es gilt als die Revolution auf dem Stühlemarkt schlechthin. Zuvor allerdings hat der Holländer Gerrit Rietveld seinen „Rot- blau-Stuhl“ entworfen, gebaut und publiziert: ebenfalls eine Horizontal-vertikal-Verbindung von Holzlatten, als Sitzflächen allerdings zwei Holzbretter: das Ganze schwarz und grau und mit Primärfarben bemalt.

Marcel Breuer bastelt weiter, beendet sein Studium, versucht sich ab 1924 als Architekt in Paris, kehrt 1925 ans Bauhaus zurück und wird hier „Jungmeister“ der Möbelwerkstatt. Er entwirft und baut weiter Einrichtungen: Tische, Schränke, Betten und — eben Stühle, aber nicht aus Holz. Er verbiegt jetzt Stahlrohre zu Stuhlgebilden. Und jetzt revolutioniert er das Sitzmöbel wirklich. Denn was zuvor mit dem „Holzlattenstuhl“ doch eher eine Adaption der „de Stijl“-Gestaltungslehre war, immer noch dem statischen Prinzip von Stütze und Last verpflichtet, wird jetzt aufgehoben: Man sitzt nicht mehr nur, man wippt, man schwingt. Der „Freischwinger“ ist geboren, der „hinterbeinlose Stuhl“.

Jahrelang hat es Streitigkeiten um diese Erfindung des Jahres 1927 gegeben. Der Holländer Mart Stam war Breuer mit einem hinterbeinlosen Stuhl aus zusammengeschweißten Gasrohren zuvorgekommen. Dessen Stuhl allerdings wippt nicht und schwingt nicht frei. Die Proleten- Variante. Mies van der Rohe sieht eine Skizze von Stams Stuhl und biegt seine Variante: vorn im Halbkreis weit ausladend. Das Modell für den Dandy. Beide stellen sie ihre Modelle 1927 in der legendären Werkbundausstellung — in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart — aus. In der Folge streiten sich die „Erfinder“ (Mies nicht) um die Urheberrechte: schließlich wird Stam das „hinterbeinlose“ Design zugesprochen, Breuer das „freischwingende“ Prinzip (für jedermann: das Zeitgefühl).

Der innovativste und originellste Möbeldesigner aber bleibt Marcel Breuer. In den folgenden 50 Jahren seines Schaffens — bis zu seinem Tod im Jahre 1981 — arbeitet er weiter an Entwürfen für Stühle, Schränke und Tische. In den Jahren seiner Bauhauszeit (und ab 1928 in Berlin) bevorzugt er das Material Stahlrohr, dann Aluminium (Schweiz, 1932/33, ab 1934 in Serie gebaut), dann geleimtes Schichtholz (England, ab 1935).

Als Gestaltungsprinzipien sind immer wieder die Grundregeln der Bauhauslehre zu erkennen (im Gegensatz zu vielen anderen, die sich auch dieser „Lehre“ bedienen, aber doch nur Bastler und Kunstgewerbler bleiben): klare Linienführung, materialgerechte Verarbeitung und Konstruktion und eine Form, die sich in Serie herstellen läßt. Zum Teil gestaltet er ganze Wohnungen mit entsprechenden Einrichtungen (die Wohnung von Erwin Piscator 1927) und Ausstellungen (deutsche Abteilung der Société des Artistes Décoratifs Francais, Paris, 1930, vom Werkbund beauftragt, mit Walter Gopius und Herbert Bayer).

1932 und 1934 entwirft er als Architekt die ersten Häuser, die auch gebaut werden, darunter die mit Alfred und Emil Roth gemeinsam entworfenen Häuser im Doldertal in Zürich für den Architektur- und Kunst- Theoretiker und -Kritiker Sigfried Giedion. Von 1935 bis 1937 lebt Breuer in England und wird schließlich in diesem Jahr — auf Vermittlung seines Mentors Walter Gropius— an die School of Design in Harvard berufen. Danach, bis zu seinem Tod, arbeitet er hauptsächlich als Architekt.

Das Bauhausarchiv in Berlin widmet diesem Designer nun die erste große Ausstellung. Sie ist klar gegliedert und führt die Möbel in kleinen Kabinetten, in Zimmern vor: ganz so, wie es die großen Kaufhäuser in ihrem Möbeletagen machen, und ganz so, wie es Breuer bei Gelegenheiten von Ausstellungen auch getan hat. Da stehen diese Tische, Tischchen, Stühle, Schränke und Kommoden beieinander, hier eine Lampe, dort noch ein Radio, ein Grammophon. Die einzelnen Stücke korrespondieren ganz großartig miteinander, werden nicht als inkunable Einzelstücke präsentiert und auratisiert, sondern als Teile einer möglichen Serienproduktion vorgeführt. Und erst in diesem Ensemble und auf diese Art der Präsentation zeigt sich die ganze Tragweite des Einflusses von Breuer auf die nachfolgenden Generationen von Möbelgestaltern. Die Formen und Vorstellungen der fünfziger und sechziger Jahre — sie waren bei Breuer jeweils vorweggenommen und auf die Spitze getrieben.

Man sieht an der Art der Zurschaustellung auch, daß hier ein Kenner der Materie, ein Besessener zugange war: Viele Ausstellungsstücke stammen aus der „Design- Sammlung Manfred Ludewig, Berlin“, der auch für die Konzeption und Gestaltung der Ausstellung verantwortlich zeichnet: dieses Abstimmen und Arrangieren von Boden, Wand, Möbelstück, Lampe, Bild und anderen Accessoirs — das ist schon ganz große Klasse. Es vermittelt erstmals einen Eindruck davon, wie das gestalterische Prinzip in das Leben eindringen und dieses beeinflussen kann und sollte. Wer um die vielen Debatten — vor allem in den zwanziger Jahren — über die „neue Gestaltung“ weiß und diese kennt, meint, hier die dreidimensionale Illustration derer präsentiert zu bekommen, die mit „Gemütlichkeit“ so gar nichts am Hut hatten.

Ein Wort zum Katalog: Der Benedikt Taschen-Verlag mit seinen 29,95-Mark-Büchern ist für viele Produktionen zu loben. Doch sollte es sich eine wissenschaftlicher Arbeit verpflichtete Institution versagen, das Kataloggeschäft an diese rein kommerziellen Unternehmungen abzutreten. Ein Verlag, der einen Ausstellungskatalog herstellen will, hat sich nach den Vorgaben des veranstaltenden Hauses zu richten (Zahl der Aufsätze, Grad des wissenschaftlichen Diskurses, Gliederung etc.). In diesem Fall hat sich das Bauhausarchiv leider dafür entschieden, sich die verkaufs- und erfolgserprobten Vorgaben des Benedikt Taschen- Verlages zu eigen zu machen.

Der einzige Text ist referierend- anbiedernd an den populistischen Geschmack und auf ein Wissen zielend, das in Kneipengesprächen auf Bildung macht. Die wissenschaftliche Qualität, die das Bauhausarchiv mit den letzten Katalogen (z.B. Metallwerkstatt, Fotografie am Bauhaus) vorgelegt hat — es gab immer mehrere Beiträge aus unterschiedlichster Sicht —, bleibt hier vollends auf der Strecke. Ästhetische Untersuchungen, Zeitgeistfragen, Stilvergleiche und eine nähere Betrachtung des architektonischen Werkes von Marcel Breuer — all das wäre dem Geburtstagskind (die Ausstellungseröffnung fand an seinem 90. Geburtstag statt) angemessen gewesen. Und der oder die Verantwortliche für den Katalogumschlag sollte doch noch mal in sich gehen, ob das wirklich so gemeint war: dieses nach unten ins Graue sinkende Blau, das kann doch nicht mit Gestaltung, nicht mit „Design“ gemeint sein. Da hätte man wirklich ein paar Mark aufbringen müssen, um einen Profi ranzulassen.

Marcel Breuer: Design. Eine Ausstellung im Bauhausarchiv Berlin, Klingelhöferstraße 14. Bis 30.August, täglich von 10 bis 17 Uhr, dienstags geschlossen. Katalog hrsg. vom Bauhausarchiv — Magdalena Droste und Manfred Ludewig. 160 Seiten mit 73 farbigen und 134 S/w-Abbildungen. Benedikt Taschen-Verlag, 29,95DM

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