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Das Leben ist zu kurz für schlechten Wein

Ein Northern-Dings: Die britische Band Pulp ist wieder da mit dem wunderbaren, altersweisen Album „More“ und delikaten Songs über Falten, tiefe Wunden und neue Liebe

Pulp im Studio mit Jarvis Cocker (zweiter von rechts) und Candida Doyle auf dem Sofa liegend Foto: Tom Jackson

Von Sylvia Prahl

Weniger ist mehr.“ Candida Doyle, seit 1986 Keyboarderin von Pulp, bekennt sich beim Interview mit der taz zum Nötigsten: „Wenn ich die Wahl habe, eine oder fünf Noten zu spielen, spiele ich eher nur eine. Man sollte die Dinge nicht unnötig aufblasen.“ Ein stimmiger Gegensatz zum Titel des jüngst erschienen Albums „More“ ihrer Band Pulp. Pulp, die britische Band, die Sänger und Gitarrist Jarvis Cocker im Alter von 15 zusammen mit einem Schulfreund 1979 in Sheffield gegründet hat. Schön, dass es Pulp immer noch gibt. Noch schöner, wie abendfüllend die elf Songs des neuen Werks klingen.

„More“ ist das erste neue Pulp-Album seit 24 Jahren, und weil mehr nicht unbedingt neu bedeutet, finden sich darauf auch einige Songs, deren Texte und Melodien aus Zeiten von unvergessenen Alben wie „This Is Hardcore“ von 1998 stammen. „Grown Ups“ zum Beispiel. Über Candida Doyles akkurat gesetzte, minimal variierende Synth-Akkorde spielt Gitarrist Mark Webber eine grobverzerrte Hookline und Sänger Jarvis Cocker entwickelt Gedanken über den Status des Erwachsenseins. Ganz anders als bei „Help the Aged“ (auch auf dem Album „This Is Hardcore“), in dessen Songtext der Jungspund vor knapp 30 Jahren seine Ängste vorm Älterwerden hervorweinte, weist der inzwischen 61-jährige Cocker im Text von „Grown Ups“ darauf hin, dass es in jedem Fall eine gute Idee ist, im Hier und Jetzt zu leben. Nicht nur das, Cocker findet auch, es sei besser, das Leben zu genießen und sich keine Gedanken zu machen, ob man jetzt dafür bloßgestellt werden könnte. „It’s so hard to act just like a grown up / And we’re hoping­ that we don’t get shown up“. Dazu Erkenntnisse wie „So you move from Camden / Out to Hackney / And you stress about wrinkles / Instead of acne“; oder eine Strophe später „And I’m not ageing / No I am just ripening / And life’s too short to drink bad wine / And that’s frightening / And it’s nearly sunset / And we haven’t had lunch yet.“ Eigentlich will gar niemand, wie Cocker weitersingt, erwachsen werden: Obwohl, willst du dich weiterentwickeln, führt wohl kein Weg daran vorbei.

Eine Neukomposition auf „More“ ist der Song „Tina“. Darin erinnert sich Cocker an einen Schwarm aus Jugendzeiten. Ob seiner Schüchternheit traute er sich nicht, die Angehimmelte anzusprechen, sondern imaginierte sich Begebenheiten und Gemeinsamkeiten. Aus ihrem Verhalten schlussfolgert der Sänger Gewissheiten, von denen sie gar nichts wissen konnte. Jeder und jede kennt so etwas aus eigener Erfahrung, aber darüber singen kann man erst mit einigem Abstand.

Vielleicht sind es Geschichten wie diese, die „More“ auch für eine jüngere Generation interessant machen. In einem Interview mit dem britischen Radiosender BBC 6 zeigen sich Cocker und Doyle überrascht und zugleich erfreut, dass ihr Konzertpublikum sehr viel jünger ist als sie. Die Pulp-üblichen Statement-Akkorde auf „Tina“ und Cockers einfallsreiche Gesangsperformance werden durch Streicherarrangements von Richard Jones ergänzt. „Das hat unseren Sound erweitert und verleiht ihm mehr Tiefe“, findet Candida Doyle. Stimmt, die Arrangements fügen sich in die Songs ein, untermauern Gefühle und verdichten die Atmosphäre. Auf „Farmers Market“ sind die Streicher wie ein Kommentar auf die erwachende Liebe Cockers zu seiner zweiten Frau, die er in dem Song beschreibt. Die Crime-and-the- City-Solution-artige Sägegeige auf „Slow Down“ begleitet die sterbende Liebe zu seiner ersten Frau. Einzig bei „Background Noise“ wird der Songtitel zum Programm für die Streicher, obwohl eigentlich Geräusche wie das Kühlschrankbrummen besungen werden, die erst auffallen, wenn sie nicht mehr zu hören sind. Dass damit anderes gemeint ist, muss hier nicht extra erwähnt werden.

Nach wie vor singt Cocker nicht nur, sondern er ächzt, haucht, murmelt und stöhnt zusätzlich über mehrere Oktaven. Die Zeilen „I was born to perform / It’s a calling“ im Auftaktsong „Spike Island“ sind nicht Attitüde, sondern Tatsache. Doch während er früher alle Register zog, vor allem, um jemanden zu entblößen – unerreicht die mit verzweifelter Überzeugung und hochnerviger Stimme vorgetragene Erzählung des Upper-Class-Mädchens, das mal wissen wollte, wie die „Common People“ (1995) so leben, um sie dann mit ein paar fast beiläufig gemurmelten Worten zu vernichten –, nutzt er diese Tools jetzt vor allem, um Gefühle zu transportieren: Sarkasmus, Ironie und Humor sind natürlich immer noch am Start. „Tina’s always attentive to my needs / We’re really good together / Cos we never meet.“

Überraschung: Candida ­Doyle, die im Alter von zehn Jahren 1973 nach Sheffield gezogen ist, sieht sich eher von den rammdösigen Synth-Riffs der frühen Keyboarderinnen von The Fall aus Manchester inspiriert. Und nicht etwa von den in Sheffield beheimateten New-Wave-Poppern wie Heaven 17. Was die Klangpalette ihrer Synthesizer angeht, die Herangehensweise an Songs und die Offenheit für absurde Sounds und Breaks – wie etwa bei „Hymn of the North“ –, mag mit Doyles Punk-Sozialisation zu tun haben. Obwohl: Sie erwähnt, dass sie Heaven 17 durchaus mochte, jedenfalls bevor diese so discoey wurden. Doyles Einfallsreichtum hat auch einen schmerzhaften Hintergrund: Als sie 17 war, wurde bei ihr rheumatische Arthritis diagnostiziert, ein Leben im Rollstuhl war die Perspektive. Der Krug ging an ihr vorüber, aber ihre Hände sind nicht die einer Pianistin. So sampelt sie Dreierakkorde, damit sie am Ende nur eine Note spielen muss, auch hat sie Befehle auf ihrem Keyboard so umprogrammiert, dass sie näher beieinander liegen und somit für die Finger besser zu erreichen sind.

Und ebendieser seltsam anrührende Song „Hymn of the North“, den Cocker ursprünglich für das Theaterstück „Light Falls“ des anglo-irischen Dramatikers Simon Stephen komponiert hat, brachte Pulp auf die Idee, doch noch einmal ein neues Album aufzunehmen. Bei ihrer Reunion-Tour 2023 – Bassist Steve Mackey hatte nie vor, mit auf diese Tour zu gehen, und so war es ein natürlicher Schritt, dass der Tour-Bassist Andrew McKinney nach Mackeys Tod 2023 an dessen Stelle trat – haben sie das Stück zunächst zum Aufwärmen beim Soundcheck gespielt. Bei einem der letzten Konzerte performten sie es dann auch vor Publikum. Die Resonanz brachte die Band ins Grübeln … Wenn einer wie Jarvis Cocker singt „Never forget your northern blood“, ist das kein Grund, Angst zu bekommen. Eher reflektiert sein Songtext die mit zunehmendem Alter einsetzende Akzeptanz, dass die Umgebung, in der man aufgewachsen ist, einen geformt hat – und dass man aus der Nummer nur schlecht rauskommt. Selbst wenn, wie Cocker vermutet, es die vertrauten Orte, an die man sich erinnert, gar nicht mehr gibt.

Jarvis Cocker singt nicht nur, sondern er ächzt, murmelt und stöhnt

Vielleicht ist es auch ein Nor­thern-Dings, Liebe geradewegs einzufordern. Fast schon hysterisch fordert Cocker „Got to Have Love“, weil ein Leben ohne Liebe eben völlig sinnlos ist: „Without love you’re just making a fool of yourself / Without love you’re just jerking off inside someone else“. Oder „When love disappears / Life disappears“, und fordert uns am Ende dieser Uptempo-Disco-Nummer auf, zu buchstabieren: L.O.V.E. Pulp-Kumpel und Sheffield-Lover Richard Hawley haut im Song „Have Love“ auf seinem letzten Album „In This City They Call You Love“ in dieselbe Kerbe: „You got to have love / If you want to get loved“. Hawley hat auch die Musik zu einem Song des neuen Pulp-Albums beigesteuert: In „A Sunset“ lässt Cocker doch noch den Watschnbaum umfallen und mokiert sich über Leute, die nicht die Natur, sondern nur das Spektakel in ihr sehen. Die Wandergitarren-Romantik, die Hawley heraufbeschwört, passt wie Arsch auf Eimer.

Bisher schielte der feinsinnige Pop von Pulp auf die Hintertür. Mit der Gefühlsexplosion auf „More“ kommen sie jetzt direkt durch die Vordertür rein. Manchmal ist mehr eben doch mehr.

Pulp: „More“ (Rough Trade/Beggars/Indigo)

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