: Das Leben als After Work Party
Arbeitsplätze sind zentral? Quatsch. Dass Arbeit das Land regieren soll, will nur die PDS. Alle anderen wollen schön leben – von den Kreativen bis hin zu Attac. Gesellschaftskritik entzündet sich an der Unmöglichkeit anständiger Arbeitslosigkeit
von DIEDRICH DIEDERICHSEN
„Her mit dem schönen Leben“, ruft uns die Organisation Attac seit einigen Wochen von ihren Plakaten zu. Dass mit diesen Worten die prominenteste globalisierungskritische, früher hätte man gesagt, internationalistische Gruppierung einlädt, ist zumindest neuartig. Früher hätte man kaum mit einem besseren Leben für eine gute Sache mobilisiert. Eher wäre die Solidarität als Zärtlichkeit der Völker, in jedem Fall aber eine altruistische Losung bemüht worden, die sich auf eine helle internationalistische Moral und ihre dann später viel kritisierte dunkle, stellvertreterpolitische Kehrseite hätte verlassen können.
„Ich will so nicht leben“, rufen, brüllen und schreien die Darsteller in den Stücken von Réne Pollesch, die in der letzten Saison auf Deutschlands Off-Bühnen einen ähnlichen und symptomatischen Erfolg hatten wie Attac auf der Ebene alternativer Politik. Auch hier ist der primäre Ort des Protests das Wie des eigenen Lebens, das Attac durch einen Politikwechsel im globalen Maßstab verbessert sehen will. Doch diese für linken Protest ungewöhnliche Kategorie ist keineswegs vom Himmel gefallen. Dass diejenigen, die heute jenseits der etablierten Parteien eine andere Politik verlangen, nicht von einer abstrakten altruistischen Anrufung oder Moral aus argumentieren, sondern Slogans entwerfen, die rhetorisch eher den Versprechen der Werbung ähneln, hat eine Geschichte.
Leben taugte als ahistorische Kategorie für die klassische Linke vor allem deshalb nicht, weil sich Fortschritt nur über die antagonistische Kategorie der Arbeit denken und fordern ließ: Nur über die Verbesserung der Arbeit und ihrer Aneignung konnte auch das Leben ein anderes werden. Beatnik- und Hippie-Positionen bei subkulturellen und kulturrevolutionären Linken während der 60er verhallten resonanzlos in den ewigen Echokammern der Geschichte oder wurden als „kleinbürgerlich“ abgetan. Nur der Kleinbürger wolle, egal ob um ihn herum der Faschismus brandet oder die Widersprüche sich zuspitzen, sein kleines Lebensglück aufbauen; Kommunen und Drogen seien im Grund nicht anders. Das änderte sich, als in den 90ern das Interesse auch der Linken sich zusehends mehr der empirischen eigenen Existenz zuwandte. Feminismus und Antirassismus als wichtigste Politikfelder der 90er schlugen da schon eher Brücken zwischen Globalzusammenhängen und dem lokalen Leben. Über Gender und sexuelle Identität ließ sich Systemisches am eigenen Leibe spüren und begreifen. Begrifflich aber war es vor allem das Situationismus-Revival, das, viel nachhaltiger als dessen Original, das Denken der akademischen wie der Szenelinken in den 90ern veränderte. Die im Situationismus immer wieder versuchte Synthese marxistischer mit kreativistischen und existenzialistischen Elementen gipfelte in der Idee, eigenständig Situationen kreieren und in der Stadt Forschungen und neue Erfahrungen machen und politisch nutzen zu können. Das gewann an Popularität und Selbstverständlichkeit, als die Linke begann, sich von der heiligen Kuh Arbeit zu verabschieden. In den neosituationistischen Milieus entstanden Bewegungen, deren prominenteste sicher die Glücklichen Arbeitslosen in Berlin mit den aus Jungle World und FAZ bekannten Essays ihres Theoretikers Guillaume Paoli sind, die die Arbeit aus dem Katalog der Utopien strichen: Arbeitslosigkeit galt nicht mehr als Problem, sondern als Errungenschaft des Techno-Turbo-Kapitalismus. Zu kritisieren blieb, dass die Arbeitslosen weiterhin für ihre avantgardistische Lebensform bestraft oder bestenfalls therapiert wurden, statt ihnen zu danken.
Wenn die Arbeit abgeschafft ist, rückt das Leben in den Mittelpunkt. Während im Attac-Slogan das Leben schöner wird, wenn die Welt besser geworden ist, wäre das Glück der Arbeitslosen auch in einer Welt denkbar, die gar nicht nach anderen Prinzipien funktioniert als heute, nur mit ihrer stetig wachsenden und längst strukturell gewordenen Minderheit anders umgeht. Theoretisch wäre es ja möglich, die Arbeitslosenbewegung als eine Bürgerrechtsbewegung zu konzipieren, die zwar ein radikales Umdenken fordert, aber nicht unbedingt das System ganz abschaffen wollen muss – womit ein Anschluss an die Realpolitik der zurzeit im Wahlkampf aktiven Parteien denkbar wäre.
Doch die sind von einer solchen Wende weiter entfernt denn je. „Die linke Kraft“ PDS fordert doch tatsächlich, dass „Arbeit das Land regieren“ müsse. Die anderen haben es sich unabhängig von ihren sonstigen Zielen längst angewöhnt, Arbeitsplätze als Letztbegründung für jeden Quatsch anzugeben: zerstörte oder gerettete Umwelt, private Profite oder kommunale Sparmaßnahmen – nichts wird aus sich selbst begründet, alles über die zu schaffenden Arbeitsplätze. Der religiöse Konsens, dass Arbeitsplätze unser höchstes Gut seien, ist tabu. Dabei ist, unabhängig davon, ob man diese Heilserwartung an die schiere Erwerbstätigkeit teilt, eines allen klar: dass nämlich all die mit dem Erhalten oder Schaffen von Arbeitsplätzen begründeten Entscheidungen ihr Ziel genauso unzuverlässig erreichen, wie man es von religiösen Bemühungen anderer Art kennt – beten oder das Opfern von Lämmern.
So sinnvoll eine Wende in der Bewertung der Arbeit wäre, so wenig wäre den von René Pollesch zur Stimme verholfenen jungen Menschen damit geholfen, die in seinen Stücken immerzu rufen, dass sie so nicht leben wollen. Ihr Misstrauen richtet sich ja gerade gegen die sozusagen verdeckte Vollbeschäftigung im kulturellen und Freizeitbereich. Sie zweifeln ja die bloße Möglichkeit einer anständigen Arbeitslosigkeit an. Alles was man tut, mit seiner Kreativität, ja mit seiner Lust, führt nur zu immer wieder neuen Produkten, Waren, Slogans und Verwertungen und zu (Lohn-)Abhängigkeiten. Die Ressource Subjektivität wird gnadenlos verwertet und schlecht bezahlt in den Konkurrenzkampf eingespeist. Und gerade das, was man mit seinem lieben langen Tag macht, wenn man endlich glücklich und arbeitslos wäre, das ominöse Leben, wäre letzten Endes nie etwas anderes als die Produktion von verwertbaren Zeichen für Kulturbetrieb oder -industrie.
Folglich hieß dann eine der Rahmenveranstaltungen zu Polleschs Saison im Berliner Prater auch heiter apodiktisch „Die Falsche Leben Show“. Reines Leben wird unter kapitalistischen Bedingungen immer falsch, nämlich zur warenförmigen Selbstverramschung, konnte man aus den Selbstdarstellungen und Diskussionsbeiträgen folgern. Zu einem anderen Ergebnis kam Mark Siemons, der in einer Polemik in der FAZ befand, dass die vermeintlich falsch Lebenden, die hier sprachen, eigentlich alle ganz glücklich wirkten. Dass sie ihr Leben als falsch kennzeichneten, sei eher einem Szenekonformitätsdruck geschuldet, der traditionell verlange, in der Negation zu verharren, auch wenn es dafür keine dringenden, als Leidensdruck erkennbaren Ursachen gäbe.
Aber erklärt das die existenzialistische Wende, die Fokussierung auf das eigene Leben, die nach der Popliteratur nun auch die kritische Theorie und neue Politik erreicht hat? Vielleicht ist ja der Fremdheitseindruck und das mit ihm verbundene Nicht-so-leben-Wollen nicht wirklich allein den viel beklagten Verwertungserfahrungen, der Gekauftheit- und der Käuflichkeit geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Zeichenproduktion, die man den ganzen Tag betreibt, schon lange kein Signifikat mehr hat: Keiner hört mehr wirklich zu, wenn einer kreativ ist. Kunst, Kultur und kreative Formen sind eher der gehübschte Alltagsmodus, auf den unsere ganze Kommunikation getunt wird. Niemand hört also genau den Kindern zu, denen, als sie noch Kinder waren, wahrscheinlich genauer und liebevoller zugehört wurde als je einer früheren Generation. Wer mit dem genauen Feedback zuhörender Eltern und ihrer Milieus aufgewachsen ist, erlebt die kalte Allgemeinheit der realen Öffentlichkeit als Kränkung. Das Ergebnis ist oft der Rückzug in die Selbstverniedlichung als Imitation der Kindheit oder in spezialisierte Subkulturen, wo die gelernte Genauigkeit wieder auf eine begrenzte Anzahl von Gegenständen trifft. So dass einem die Fremdheit des Allgemeinen – Voraussetzung auch des Politischen – erspart bleibt.
Die Fremdheit aus Verwertungserfahrungen bei Pollesch ist dagegen eine Abstraktion, die das spezifische Irrealisierungs-Leid von glücklich aufgewachsenen Kulturproduzenten mit der Universalie ökonomischer Ausbeutung und Verwertung kurzschließt. Das ist aber nur auf der sehr allgemeinen Ebene möglich: Die Nichtgedecktheit des Zeichenreichtums ist eine Form des erzwungenen Verstummens, die mit der Irrealisierung und Enttäuschung von Verwertungserfahrungen vergleichbar ist. Der etwa Polleschs Stücke durchziehende Vergleich von Kulturarbeit mit Prostitution ist eine zwar dramatisch vertretbare Übertreibung, der reale Kern der Fremdheitserfahrungen, dessen, was nicht stimmt im falschen Leben, ist aber ein anderer. Er verweist eher auf ein demokratiepolitisches als ein kultur-ökonomisches Problem: auf die politische Abgekoppeltheit kultureller Zeichenproduktion, insbesondere derer, die aus den subkulturellen und avantgardistischen Milieus kommen, wo der Zeichenreichtum am größten und die Vokabulare am verwickeltsten sind, während ihre Übersetzbarkeit stetig abnimmt.
Statt die Angst davor, den Zeichenüberschuss zu verwerten und in die gesellschaftliche Fantasy-Produktion von Werbung und Kulturindustrie einspeisen zu lassen, in den Vordergund zu stellen, sollte man vielleicht aber eher darüber nachdenken, wie Kunst in die Nähe des politischen Signifikats kommt. Das heißt nicht einfach, Ökonomiekritik durch Demokratie- und Öffentlichkeitsaffirmation zu ersetzen, sondern jene auf die Füße dieser zu stellen und die realen Möglichkeiten von Öffentlichkeit nicht am Kinderglück zu messen.
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