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Das Kreuz des Südens

Lesarten der Moderne: Fünf Ausstellungen präsentieren in Madrid Kunst aus Lateinamerika – und weisen über den Kontext des Kontinents hinausvon MICHAEL NUNGESSER

Nach der jahrzehntelangen, von der Francodiktatur auferlegten Abstinenz von lateinamerikanischer Kunst war und ist der Nachholbedarf in Spanien groß. Die Kunst der ehemaligen Kolonialreiche, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts endgültig emanzipiert hatte, genießt mittlerweile enorme Aufmerksamkeit: Schon 1991, als man die „Entdeckung“ des Kontinents als „Begegnung zweier Kulturen“ feierte, fand die Überblicksausstellung „Voces de Ultramar. Arte en América Latina 1910–1960“ statt, im Centro Atlántico de Arte Moderno auf Gran Canaria und in der Casa de América in Madrid.

Was damals auf der als Brückenkopf zu Lateinamerika geltenden Kanareninsel und im (übrigens 1992 eingeweihten) Madrider Schaufenster des Halbkontinents gezeigt wurde, war noch chronologisch und nach Ländern gegliedert. Die jetzigen Ausstellungen in Madrid wollen hingegen Schneisen schlagen in das komplexe Entwicklungsgestrüpp der Kunst des 20. Jahrhunderts, orientiert an ähnlichen (oder gegensätzlichen) Arbeitsweisen, Haltungen, Positionen, Konzepten, die teils wiederum mit historischen Abläufen und Zäsuren verknüpft sind. Sie gehen über nationale Kunst- oder Stilgeschichte hinaus, streben weder Vollständigkeit noch Repräsentanz an, sondern veranschaulichen Eigenarten einer kannibalistisch-hybriden, postkolonialen Kunst – kurz: einer anderen Moderne.

Der Schwerpunkt liegt auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Ausflüge in frühere Jahrhunderte nicht ausgeschlossen. Je ein oder zwei Kuratoren aus Lateinamerika (bzw. den Kanarischen Inseln) haben sie vorbereitet, darunter bekannte Namen wie Ivo Mesquita, Gerardo Mosquera, Mari Carmen Ramírez und Octavio Zaya als Primus inter Pares. Als Ergänzung wurde im Espacio Uno, der Experimentierstätte für One-(Wo)Man-Shows, die 1992 (!) gegründete Frauengruppe „Mujeres Creando“ aus La Paz vorgestellt. Die bolivianische Kunstguerilla arbeitet mit gesprayten utopischen Parolen im Straßenbild (hier: Ausstellungsraum) und veranstaltet Performances, die nun in Videofilmen präsentiert werden. Ihr Kampf für freien Ausdruck hat ihnen im eigenen Land Verfolgung und Todesdrohungen eingebracht.

Die von der „Staatlichen Stiftung Spanien Neues Jahrtausend“ geförderten Ausstellungen stehen unter dem Obertitel „Versiones del Sur“, annähernd mit „Lesarten des Südens“ übersetzbar. „Der Süden ist unser Norden“ schrieb einmal der einflussreiche uruguayische Konstruktivist Joaquín Torres-García und stellte konsequent die Weltkarte auf den Kopf.

Vier der Ausstellungen finden im Hauptbau, einem gigantischen ehemaligen Krankenhaus nahe dem Atochabahnhof statt. Die umfänglichste nennt sich, in Anspielung auf Utopie (Nirgendland), „Heterotopías“ und präsentiert raum- und zeitübergreifend in sieben „Konstellationen“ die Epoche zwischen 1918 und 1968: vom avantgardistischen Nukleus zwischen Buenos Aires, Mexiko-Stadt und Barcelona bis zum Konzeptualismus der Gegenwart. Pamphlete, Zeitschriften, Bücher und Manifeste in Vitrinen verorten das Ausgestellte historisch und theoretisch. Zu sehen sind unter anderem die präkolumbianisch inspirierte „Schule des Südens“ von Torres-García, der mexikanische Muralismo mit dem Sozialpathos eines David Alfaro Siqueiros oder der aus Collage und Assemblage gebaute expressive Sarkasmus der Argentinier seit den Zeiten der Militärdiktaturen. Es gibt Op-Artisten und Lichtgestalter à la Jesús Rafael Soto und Gyula Kosice ebenso wie die Sinnlichkeit und Interaktion herausfordernde Materialienkunst von Lygia Clark und Hélio Oiticiaca, die beide auf der letzten Documenta vertreten waren.

Die von Jorge Luis Borges inspirierte Ausstellung „F(r)icciones“ bedient sich dagegen eines Wortspiels um „Fiktion“ und „Reibung“. Sie veranschaulicht Parallelitäten und Dialoge über Zeiten und Grenzen hinweg, die sich seit der skulpturalen Ursprungsallegorie „Amerika“ (1692), die den Kontinent zur edlen Wilden stilisierte, herausgebildet haben. Die Reflexion über Identität wurzelt in den historisch verbreiteten Kasten-Bildern (Kreolen, Mulatten etc.) und setzt sich fort in den Schüben der Immigration – wie sie Lasar Segal in seinem berühmten Bild vom jüdischen Flüchtlingsschiff paradigmatisch zum Ausdruck brachte.

In der Ausstellung „Ich sehe nicht nur, was ich sehe: Perversionen des Minimalismus“ – in Abwandlung des Frank-Stella-Mottos „What you see is what you see“ – sind auch nicht lateinamerikanische Künstler beteiligt. Unter anderem wurde Mona Hatoum aus Beirut eingeladen. Hier zeigt sich ein internationaler Prozess der Aneignung und Umdeutung westlicher Vorbilder.

Dem früheren Purismus stehen neue, ironisch gebrochene oder magisch aufgeladene Adaptionen gegenüber: Etwa die aus Knochen oder getrockneten Echsen gebildete Installation von María Fernanda Cardoso oder der mitten im Raum auf dem Boden liegende winzige Würfel „Kreuz des Südens“, ein zu gleichen Hälften aus Kiefern- und Eichenholz zusammengesetztes Objekt von Cildo Meireles.

„Über das Dokument hinaus“ heißt zuletzt eine der Fotografie gewidmete Ausstellung, die Zeitgenossen, aber auch Marc Ferrez aus dem 19. Jahrhundert einschließt. Die verschiedenen künstlerischen Positionen eint eine quasi archivalische Arbeitsweise, in der jedoch Subjektivität, Zufall und Kommentar das rein Faktische untergraben. Der Mensch bleibt meist ausgeschlossen, zu sehen sind seine Spuren. So beredt die ärmlichen „Landschaften der Obdachlosen“ von Anthony Hernandez, so düster erscheinen Alfredo Jaars Fotos in schreinartigen Kästen, die die Massaker in Ruanda mit Lagerszenen nur andeuten. Metaphern für Ausbeutung, Gewalt, Entwurzelung oder Globalisierung mögen auf konkrete Ereignisse anspielen, sie wirken in den Werken der Künstler doch weit über den Kontext hinaus. Gerardo Mosquera schreibt mit Recht: „Das Thema ist nicht Lateinamerika, sondern dass sich dort etwas künstlerisch Bedeutendes ereignete.“

„Versiones Del Sur“ im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Palacio de Velázquez und Palacio de Cristal, Madrid. Bis 19. 2. bzw. 26. 3.

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