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Das Gesetz der ProvinzUnd wieder eine weg

Das Abi in der Tasche, suchen viele Junge den Weg in die weite Welt. Das ist für die Dagebliebenen traurig, aber verständlich. Man kann ja zurückkommen.

Ein Umzug in die große Stadt? Zum Heulen schön Foto: plainpicture/ R. Mohr

D ie nette L. geht fort und alle müssen weinen. Selbst die Hartgesottenen würgen an ihren Tränen. „Wird schon“, sagen sie zu L. Und armen sie so eng, dass sie ihre geröteten Augen fast unsichtbar in deren schwarzem Haar verstecken können. „Komm wieder“, sagen sie, und L. muss deshalb gleich noch heftiger heulen.

L. hat diesen Sommer ihr Abi gemacht, einen Studienplatz bekommen und macht sich jetzt auf in die weite Welt. Diese Welt ist ja gar nicht so dermaßen riesig und gefährlich, dass man sich vor ihr fürchten müsste. Zwei Stunden mit dem ICE und eine kurze Regiofahrt, schon ist man wieder zu Hause, draußen in der Provinz.

Warum also wird hier so viel geweint nach L.s letzter Chorprobe? Es ist der Abschied, das Wissen, dass die Kinder groß werden und fortgehen. Fortgehen müssen. Dass L. geht, bedeutet ja auch: wieder eine Generation weg. Das ist das Gesetz der Provinz, der Vertrag der Generationen: weggehen, um irgendwann zurückkommen zu können. Vielleicht. Hoffentlich.

Bei L. stehen die Chancen auf Rückkehr nicht schlecht. Sie ist hier, in unserer Kleinstadt geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie war in der musikalischen Früherziehung, später im Kinderchor, noch später in unserem Erwachsenenchor. Sie singt einen astreinen Sopran und ist viel versierter als manch andere (zum Beispiel ich). Sie kann es sich deshalb leisten, gemütlich mit ihrer Stuhlnachbarin zu schwatzen, während die Chorleiterin mit anderen Stimmgruppen vertrackte Takte probt. Aber heute tuschelt sie nicht, heute heult sie. Jede Träne ein Versprechen auf Wiederkehr. Mir wird ganz schwer ums Herz.

Rein in ein aufregenderes Leben

Auch meine Kinder sind weggegangen aus dieser Kleinstadt. Raus in die Metropolen, rein in ein deutlich aufregenderes Leben als unseres hier an den Rändern der Normalität. Und von heute aus kann man sagen, dass sie eher nicht zurückkehren werden. Das Draußen, das sie gefunden haben, ist wirklich nicht verkehrt. Feste Jobs, selbstverständlich bezahlt nach Westtarif, und deshalb dereinst bessere Renten (an die sie natürlich heute noch keinen Gedanken verschwenden). Eine von diesem entscheidenden kleinen Mehr an Wohlstand und über Generationen des Dagebliebenseins beförderte gelassene Freundlichkeit.

Eine Mischung, die nicht nur das Eigene kennt. Beim Kita-Sommerfest meiner Enkelin habe ich so erfreulich viele verschiedene Hautfarben gesehen, dass ich ihrer Mutter, meiner ostdeutschen Kleinstadttochter, zugeraunt habe: „Das hätte ich euch auch gewünscht.“

Und nun geht also L. „Ich habe L. kennengelernt, da war sie zwei Tage alt“, sagt die Chorleiterin jetzt. Man spürt die Jahre durch den Raum rauschen; die Chorleiterin ist ja selbst noch jung – jedenfalls aus meiner Perspektive. Plopp! macht der Rotkäppchen-Sekt. Ich gehe zu L. hinüber und drücke sie. „Das ist gut, dass du weggehst“, sage ich. Und: „Du wirst sehen, es wird schön.“ L.s Unterlippe zittert. Und jetzt muss ich auch heulen.

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Anja Maier
Korrespondentin Parlamentsbüro
1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.
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5 Kommentare

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  • Ist doch in Westdeutschland auch nicht anders. Ich habe das Kaff im Harz, wo ich aufwachsen mußte, auch vor über 40 Jahren verlassen. Allerdings ohne Tränen zu vergießen und mit dem festen Entschluß nicht zurückzukommen.

  • Schland ist - Provinz •

    unterm—-ok ok



    Auch wenn das 'n paar Dörfler am Rande der Streusandbüchse.



    Anders sehen - wollen. So What!



    &



    Dieser taz-hyp - Voll genderneutral - wa&Gellwelle.



    Über kiddies - die sich endlich vom Acker machen. Na Gott sei Dank - kerr.



    Is Schmonzes-Dauerquese der symbiotisch konservativ-reaktionärsten Sorte.



    & dazu - z.B. -



    Bisher unerreicht - die (früher taz) ehemalige Kriegsreporterin.

    & sodele -



    “…



    Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder

    als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

    Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

    und er spannt euch mit seiner Macht,

    damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

    Laßt eure Bogen von er Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;

    Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

    Khalil Gibran



    (* 06.01.1883, † 10.04.1931) “



    & Volkers 👄 -



    “Gebt ihnen Füße zum Laufen



    & später -



    Flügel zum Fliegen.“



    &



    Gut is

    • @Lowandorder:

      & Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - kokett -

      “ Omlett - ach wie nett.







      Frau Maier hat mich sehr erschreckt.



      "Plopp!" machte der Rotkäppchen-Sekt,



      Da wurd ich wieder aufgeweckt.



      Und mir fiel ein, was lecker schmeckt:







      Schaumwein aus dem Nabel trinken



      und in einem Rausch versinken.



      Doch geht das nur mit CO2.



      Wie kompensiert man diese Leckerei?“

      kurz - …mit so Rätsel hat‘s sei Bewenden



      &



      So mag - kopfkratz - der Tag mal enden •

    • 8G
      88181 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      Sie sprechen mir aus dem Herzen.

      Andauernd gehen Leute weg, von hier nach da und dann noch dort.

      Von Hamburg nach Leipzig und von Scheißhausen nach Berlin.

      Wobei letztere wahrscheinlich mehrere Gründe haben zu gehen.

      Wer kennt nicht die Idiotie des Landlebens.

      • @88181 (Profil gelöscht):

        Sie kennen die „Idiotie des Landlebens“? Fein. Dann kennen sie sicher auch die Ursache der „Idiotie“.

        Bitte? Die kennen Sie nicht? Schade. Dann sag ich Ihnen, wie sie kommt - und immer schon gekommen ist: Fast keiner will etwas riskieren und etwas auf die Beine stellen. Fast alle wollen profitieren von dem, was anderswo schon ist

        Die jungen Leute gehen weg, weil sie in der Provinz schon alles kennen, was man so kennen kann und kennen will in ihrem Alter. Sie gehen auch, weil’s in der Kleinstadt keine Uni gibt, kein Unternehmen mit Karriereplan und häufig nicht mal gute Mediziner, von fairen Löhnen ganz zu schweigen. Und dann vergessen Sie das Wiederkommen, weil sie zu eingebunden sind. Vom ganz neu hingehen gar nicht zu reden. So kommt es dann, dass ihre Eltern später sagen müssen: „Das hätte ich euch auch gewünscht“ - und heimlich davon ausgehen, dass sie vereinsamt sterben werden. Natürlich nur, wenn ihre Kinder nicht dereinst ein akzeptables Pflegeheim in ihrer Wahlheimat ausfindig machen, das sie sich grad so noch leisten können, weil es mit billigem Personal aus der Provinz für sie Zugänge ist.

        Wenn das mal nicht wirklich zum Heulen ist...!?