: Das Gelichter der Menschensauger
Der Triumph des Geschlechtlichen über den Tod: Vampire und Francis Ford Coppolas „Dracula“ ■ Von Karl Wegmann
Als der Psychoanalytiker Kurt Lewin (1890 bis 1947) zum ersten Mal ein Kino besuchte, war er von der Ähnlichkeit zwischen Traum und Film derart beeindruckt, daß er von einer „Traumleinwand“ sprach, auf die wir im Schlaf unsere Träume projizieren. Seiner Theorie nach ist die Filmleinwand nichts anderes als eine therapeutische Wiedererschaffung unseres eigenen inneren Bildschirms. Auch heute noch ist das Kino das wirkungsvollste Mittel zur Wiedergabe unserer Traumerlebnisse. Einer, der von dem Stoff lebt, aus dem sich Wunschdenken und Träume, die Ursubstanzen des Films, zusammensetzen, ist der Vampir. Er stellt den Triumph des Geschlechtlichen über den Tod, des Fleisches über den Geist und der Materie über das Unsichtbare dar. In dieser Beziehung ist die „vitale Menschenleiche“ den gigantischen Phantasiegestalten, die uns die Filmgesellschaften als „Stars“ verkaufen, nicht ganz unähnlich.
Blutsaugende Untote gab es allerdings lange vor der Kinematographie. Die Vorstellung vom Vampir ist im Grunde eine Verbindung zweier Formen von Angst. Bei der ersten handelt es sich um den Glauben, daß eine tote Person aus dem Grab zurückkehrt, und die zweite besteht in der Annahme, daß diese Person den heiligen Lebenssaft der Lebendigen stiehlt. Doch der Vampirglaube besitzt noch eine weitere wichtige Dimension: Sex. Selbst die ältesten Vampirlegenden wimmeln von sexuellen Handlungen. In Rumänien sagte man dem Vampir nach, daß er Jugendliche verführe und ihnen sexuell willfährig sei, bis sie vor Erschöpfung sterben. Die Chaldäer glaubten, daß Blutsaugen dem Geschlechtsverkehr voranginge. Die „Pisachas“ der Inder vergewaltigten schlafende Frauen und tranken von ihnen. Die „Lamien“ der Griechen und Römer waren sowohl Liebhaber als auch Vampire: Nach der sexuellen Eroberung offenbarten sie sich als Vertilger von Menschenfleisch. Erst in jüngerer Zeit wurde die sexuelle Tätigkeit des Vampirs in den Bereich der Anspielung verlegt.
Vor allem im 19. Jahrhundert wurde der Vampirmythos dazu benutzt, verbotene erotische Beziehungen auf verhüllte Weise zu schildern. Der Biß des Untoten bekommt eine rein sexuelle Komponente; auch den Abwehrmitteln, dem Knoblauch mit seinem penetranten Geruch und dem Holzpflock, mit dem das Herz des Blutsaugers durchbohrt werden soll, sind sexuelle Assoziationen beigegeben, während das gleichfalls den Vampir verscheuchende Kreuz die lustfeindliche christliche Moral symbolisiert.
1819 erschien die Novelle „The Vampyre“ von John Polidori und erregte bei den Autoren der Romantik großes Aufsehen. Einen literarischen Höhepunkt bildete „La morte amoureuse“ (1836) von Théophile Gautier, während für die Weiterentwicklung des Stoffes Sheridan Le Fanus „Carmilla“ (1872), einer lesbischen Vampirgeschichte, wichtig ist.
Dann kam der Mai 1897, der Londoner Verleger Constable brachte den Roman „Dracula“ von Bram Stoker heraus. Das Buch sollte sich als einer der wirksamsten literarischen Entwürfe aller Zeiten erweisen. Als der bei weitem erfolgreichste unter den großen Unholden der Schauerromantik (einschließlich Shelleys Frankenstein) tobt der Graf jetzt seit beinahe hundert Jahren durch Verlage, Theater, Kinos, Comics, Fernsehen, Schlager und Schleckereien jeder Art, vom Kaugummi über Eislutscher bis zum Likör („Draculas Blut“), der den Besuchern der Berliner Pressevorführung von Coppolas neuestem Werk angeboten wurde. Stokers adeliger Vampir gehört zur winzigen Zahl völlig universaler internationaler Romanfiguren. Wie Sherlock Holmes, der ungefähr zur gleichen Zeit entstand und mit der gleichen geheimnisvollen literarischen Energie ausgestattet war, erzeugte er ein ganzes Gestrüpp literarischer Nachahmungen, Neufassungen und Entartungen.
„Draculas Erfolg als fiktive Gestalt ist kein historischer Zufall“, meint der britische Autor und Kritiker David Pirie, „bei dem Roman handelt es sich um das ungewöhnlichste aller Werke, das die Populärliteratur je hervorgebracht hat: Es ist eine erstaunliche Kulmination der sadistisch-erotischen Spannungen des ganzen viktorianischen Zeitalters. Zu den abstoßenderen Dingen, die der Graf unablässig den matronenhaften Frauen seiner viktorianischen Gegner antut, gehört die Tatsache, daß er sie sinnlich erregt.“
Schon im Jahr seines Erscheinens wurde „Dracula“ für das Theater adaptiert und als Stück in mehreren Fassungen in England und den USA gezeigt. Bram Stoker starb 1912 (an „Erschöpfung“, wie es im Totenschein heißt), genau zehn Jahre, bevor mit F.W. Murnaus Film „Nosferatu“ der Siegeszug des Vampirs durch die Lichtspielhäuser der Welt begann.
Murnaus expressionistische „Symphonie des Grauens“ betonte die monströse Erscheinung des von Max Schreck dargestellten Untoten (der hier Orlock hieß, weil der Regisseur eine unautorisierte Adaption drehte und dafür auch prompt von Stokers Witwe Florence verklagt wurde). Auf die sexuellen Anspielungen legte Murnau (bürgerlich: Friedrich Wilhelm Plumpe) keinen Wert, dafür dichtete der Deutsche dem Grafen aber die Angst vor dem Tageslicht an.
Hollywood entdeckte das blutgierige Geschöpf der Nacht 1931. Die Universal Studios starteten mit dem Film „Dracula“ ihren großen Vampirzyklus. Ihr Hauptdarsteller kam vom Theater: Bela Lugosi hatte zu diesem Zeitpunkt schon unzählige Male als beißwütiger Transsylvanier auf der Bühne gestanden. Die große Blüte des Vampirismus als Filmgegenstand begann jedoch erst in den 50er Jahren. 1958 brachte die britische Produktionsgesellschaft Hammer ein „Dracula“-Remake heraus und löste damit eine internationale Flut von Folgeproduktionen aus. Innerhalb der nächsten 15 Jahre drängten an die 200 Vampirfilme aus mindestens zehn Ländern auf den Markt. Hammer hatte dabei immer die Nase vorn, hatten sie doch mit Christopher Lee einen Titelhelden, der bis heute als der klassische Dracula-Darsteller gilt.
Natürlich lag der große Erfolg dieser Filme in den prüden 50er und 60er Jahren wie im 19. Jahrhundert in ihrer mehr oder weniger latenten Erotik: Unschuldige junge Frauen, die durch dunkle Keller vor ihrem dämonischen Verfolger flüchten, der alles verhüllende Mantel des schwarzen Manns, die auf unheimliche Weise belebte Natur – Freud läßt grüßen. So ist es denn auch bezeichnend, daß ungefähr zum Ende des Jahres 1973 die große Flut der Vampirfilme fast so schnell zurückging, wie sie entstanden war. Denn die „Sex-Welle“ schwappte über die westliche Welt, und mit ihr kamen „Schulmädchen-Report“ und harte Pornos. Jeder der wollte, konnte sich Geschlechtsteile in Aktion in monumentalen Ausmaßen anschauen. Kein Mensch interessierte sich mehr für subtile sexuelle Andeutungen oder oralsadistische Methaphern.
Zwar versuchte man den Grafen mit einem Hardcore-Touch, wie in „Sexual-Terror der entfesselten Vampire“ und ähnlichen Streifen, wieder aufzurichten, aber spätestens seit Roman Polanskis „Tanz der Vampire“ war aus Dracula eine Witzfigur geworden. Auch Werner Herzogs ambitioniertes „Nosferatu“-Remake von 1978 mit dem latexgeschmückten Klaus Kinski als Unhold konnte daran nichts ändern.
In den 80er Jahren rechneten viele Cineasten mit der Wiederkehr des eingestaubten Blutsäufers, bot er sich doch geradezu an für ein Thema, das anfing, die Welt in Atem zu halten: Aids. Doch nur in ein paar Filmen, wie Tony Scotts „Begierde“ (1983) oder Joel Schumachers „The Lost Boys“ (1987) schafften es die Vampire der Verbindung Sex–Blut–Tod eine halbwegs zeitgemäße Variante zu geben.
Francis Ford Coppola, Hollywoods teures Enfant terrible, wollte mit seiner Präsentation der Beißergeschichte wieder zurück zum Anfang. Der vollständige Titel seines Films weist deutlich darauf hin: „Bram Stoker's Dracula“. Nun wirkt in einer Zeit, wo Terminatoren mordend über die Leinwand stapfen und mit jedem Programmwechsel eine neue Massenschlachtung von Aliens beginnt, ein schwarzgekleideter Aristokrat mit etwas längeren Eckzähnen nicht gerade furchterregend. Aber Coppola durfte 40 Millionen Dollar ausgeben, und so blieb dann auch von der versprochenen Gothic Novel nur ein Grundelement übrig: Der biedere positive Held muß schleunigst verschwinden, um dem sehr viel interessanteren Schurken Platz zu schaffen. Ansonsten folgen der Regisseur und sein Drehbuchschreiber James V. Hart („Hook“) nur in groben Zügen Stoker. Andeutungen werden nicht gemacht, alles wird gezeigt und zwar in einer farbsatten Bilderflut (Kamera: Michael Ballhaus), daß einem die Augen übergehen. Natürlich ist Rot die vorherrschende Farbe. Gleich zu Anfang, wenn Dracula das Kreuz schändet, schwappt eine gewaltige Blutwoge dem Zuschauer entgegen. Stokers lange Beschreibung der geheimnisvollen transsylvanischen Landschaft erzählt Coppola in einer einzigen Szene nach: Durch das Fenster von Harkers Zugabteil sieht man zerklüftete Berge vor einem glühend roten Himmel, aus dem die starren Augen des Grafen den Weg seines Besuchers verfolgen.
Der alles verhüllende Umhang des Vampirs wird ebenfalls nicht mehr gebraucht: Eine Vergewaltigung ist ein grausamer, brutaler Akt und wurde auch von Coppola als solcher inszeniert, wohingegen ihm die sinnlichen Verführungsszenen manchmal ins Kitschige abrutschen, etwa wenn Dracula die Tränen seiner geliebten Mina (Winona Ryder) in Diamanten verwandelt. Mit dem Hauptdarsteller ist Coppola ein Glückstreffer gelungen. Wie man hört, bewarb sich halb Hollywood für den Titelpart, aber nur der junge Brite Gary Oldman (zuletzt zu sehen als Lee Harvey Oswald in „JFK“) fand vor den Augen des Meisters Gnade. Oldman hat den Dracula in zehn verschiedenen Daseinsformen zu spielen, vom 400 Jahre alten Greis bis zum jungen Beau, vom Wolf bis zu bizarren Monstern, aber immer schafft er es, die Dynamik des mythischen Charakters, diese unglaubliche Erschöpfung einer gequälten Seele, herüberzubringen. Anthony Hopkins' Spiel als Vampirjäger Van Helsing wirkt dagegen etwas hilflos und fade.
Coppolas „Dracula“ ist wilder, gewaltiger, bunter, bizarrer und verrückter als alle Vorgänger, und damit paßt diese Adaption des alten Schauerromans genau in die 90er Jahre.
Francis Ford Coppola: „Bram Stoker's Dracula“. Mit Gary Oldman, Winona Ryder, Anthony Hopkins u.a., USA 1992; 130 Min.
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