: Das Fremdwerden in unseren Städten
Und die Details leuchten: Helga Kurzchalia schrieb einen Roman über die Spätzeit der DDR – „Im Halbschlaf“
Es sieht so aus, als seien wir in Sachen DDR und Vergangenheitsbewältigung gerade in der schenkelklopfenden Phase. Ob als Hauptthema in „Sonnenallee“ und „Helden wie wir“, ob als Dekoration in „Die Unberührbare“ oder im neuen Schlöndorff, im Kino wimmelt es nur so vor kleinen Ossis, die mit Politik ebenso wenig am Hut hatten wie der gemeine Wessi. Und auch in der Literatur wird die harmlose DDR nun beliebter, nachdem sie ihre Dämonisierung als Diktatur überstanden hat – zuletzt in Person des Bettenhändlers Heinrich Hampel bei Michael Kumpfmüllers viel gelobtem Roman.
Nicht, dass dem nichts abzugewinnen wäre. Helga Kurzchalia aber wird es mit ihrem Roman „Im Halbschlaf“ dadurch nicht einfacher haben. Über die Boheme in der DDR nämlich, über die Lage der Intellektuellen und Künstler, über die Oppositionellen, Aushalter und Ausreißer, hat man zuletzt wenig gehört. Um die aber geht es auf bezirzend unspektakuläre Art bei Kurzchalia.
An diesem Roman ist eigentlich alles altmodisch: Die Aufmachung, die Autorin, die mit schon 52 Jahren ihren ersten Roman geschrieben hat, ein Unding in Zeiten von Pop und Büchern von Halbwüchsigen. Und auch das Thema ist unzeitgemäß: Es geht um die Ausbürgerung Wolf Biermanns in den Siebzigern. Wie aber Helga Kurzchalia diese Eiszeit beschreibt, in der viele die Hoffnung aufgaben, aber blieben, Freunde in den Westen ziehen sahen und depressiv wurden, ist etwas Besonderes. Sie beschreibt es, und viel davon ist autobiografisch inspiriert, aus der Sicht einer Protagonistin, die nicht einmal im Land war, als die Ausweisung passierte: Wie Gontscharows Oblomov verbringt sie ihr Leben im Liegen, dämmert vor sich hin und weiß nichts mit sich anzufangen. Ihren Job in der Bauakademie, wo sie das „Heimischwerden in unseren Städten“ untersuchen soll, hasst sie. Heimisch werden im Plattenbau, keine einfache Sache. Dass ihre Eltern antifaschistische Widerstandskämpfer waren, drängt sie eher noch mehr in die Rolle der Hilflosigkeit. Leuten, die für ihre Sache gestorben wären, von den Sinnlosigkeiten der Gegenwart zu berichten: undenkbar.
Trotz vieler Manierismen hat Kurzchalia ein schönes kleines Buch geschrieben, in dem sowohl die müde Stimmung dieser Zeit toll beschrieben ist als auch manches Detail, das mit den Kleinbürgerfantasien heute verschwunden ist: Wie sie das Umfeld ihrer Protagonistin beschreibt, die Boheme, in der man Gottfried Keller las, in den Altbauwohnungen feierte, in den Küchen zusammenrückte beim Licht der chinesischen Papierlampe: nicht sehr präsent zur Zeit. Ganz am Ende entsteht dann doch noch etwas Bewegung. Die Heldin gibt ihre Arbeit auf und beginnt eine neue im psychiatrischen Krankenhaus. Ihre erste Patientin aber, ein kleines Mädchen, hat eine seltsame Krankheit: „Obgleich ihre Augen offen waren, konnte man meinen, sie schlafe halb. Sie stieß sich nicht, noch fiel sie hin. Ihre schlafwandlerischen Bewegungen wirkten wie ferngesteuert.“
SUSANNE MESSMER
Helga Kurzchalia: „Im Halbschlaf“. Rotbuch Verlag, Hamburg 2000, 171 Seiten, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen