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Das Ende aller Berlin­versprechen

Zwischen New York und Hongkong kurz mal wieder nach Berlin: Die US-amerikanische Autorin Elvia Wilk hat lange hier gelebt und lässt ihren Roman „Oval“ in einer schrägen Variante der Stadt spielen

Von Martin Conrads

Es sind Schrumpfköpfe, die die Investorenfamilie in ihrer Berliner Vorstadtvilla in Vitrinen zur Schau stellt – Schrumpfköpfe von Consultants, die starben, bevor ihre Beraterverträge ausgelaufen waren. Der nun unberatenen Investorenfamilie blieb also nichts anderes übrig, als die Köpfe im Sinne eines Investments zu sammeln und symbolischen Gewinn bringend auszustellen, der Logik eines Systems folgend, „in dem das gesamte Leben eines Menschen Teil des Investment-Portfolios eines anderen Menschen war“. So erzählt es ­Elvia Wilk in ihrem Roman „Oval“.

Es ist noch früh, als ich die US-amerikanische Autorin treffen will, aber die Zeit drängt etwas. Elvia Wilk ist mit Freunden zum Klimastreik am Brandenburger Tor verabredet. Jetzt aber sitzt sie in einem Café an der Oranienstraße, ihr Müsli bestellt sie ohne Mühe auf Deutsch, für das Gespräch bevorzugt sie Englisch. Ja, dieses Café sei heute Morgen etwas laut, anders als sonst. Sie kennt die Stadt. Im Jahr des Mauerfalls geboren, 2010 mit einem One-Way-Ticket aus den USA nach Berlin gekommen und 2017 wieder Richtung New York abgereist, ist Wilk einmal mehr für ein paar Tage nach Berlin zurückgekehrt: um ihren Debütroman in den Kunst-Werken vorzustellen und um beim Literaturfestival über künstliche Intelligenz zu diskutieren, bevor sie nach Hongkong weiterfliegt.

In „Oval“ schildert Wilk Berlin als Stadt, die verrückt geworden zu sein scheint: Es existieren solche Dinge und Praktiken wie Yoga, „Candy Crush“, Birkenstocks, objektorientierte Philosophie, Comic Sans und „The ­Bachelor“. Anderes kommt einem bekannter vor: zu Wohnzwecken besetzte Schrebergartensiedlungen, magnetische Lautsprecher, die im Raum schweben, oder halt deutsche Schrumpfkopfinvestorenfamilien. „Oval“, diesen Sommer im New Yorker Verlag Soft Skull erschienen (eine deutsche Ausgabe ist für 2020 in Planung), ist so etwas wie der Berlinroman der Stunde über (und für) heterosexuelle, weiße, reiche, privilegierte Millennial-Expat-Akademiker/innen in Berlin.

Auf Anja, Protagonistin des Romans, halb Österreicherin, halb US-Amerikanerin, im Auftrag eines globalen Tech-Unternehmens mit Zellkultivierung befasste Biologin, treffen nämlich all diese Zuschreibungen zu. Wilk, aus vergleichbarer Position schreibend, konzipiert Anja, die so grübelnd wie schlafwandlerisch naiv durch eine von omnipräsenten Kapitalismen aller Art fest im Griff gehaltene Stadt taumelt, als Schablone für eine kritische Analyse all derer um die dreißig, die sich genau diesen Lebensstil leisten können oder als Entreprekariat dazu verdammt sind, sich ihn leisten zu müssen.

Anja scheitert in ihren Beziehungen zu drei Männern (der langatmige Teil des 340-seitigen Buches), Anja macht sich Gedanken über die Algorithmentauglichkeit ihrer Künstler/Consultant-Freunde und über ihren Körper im Fitnesscenter, Anja geht in den Baron clubben oder zu von ihren Künstler/Consultant-Freunden für Unternehmen realisierte Performances, Anja sucht die Schuld bei sich. Anja macht sich nie Gedanken über Kinder oder alte Menschen, über eine Welt außerhalb der B-Zone, über Politik im Allgemeinen oder die Pendlerpauschale im Besonderen.

Es scheint, als ob die Allgegenwart von auf „spekulative Spekulationen“ setzendem Plattformkapitalismus, fortgeschrittenem Klimawandel, internationalem Liebeskummer und gut gemeintem Drogenkonsum jede Idee an ein Jenseits dieses trostlosen Bullshitjob-Daseins ausgelöscht hat.

Nicht zuletzt hadert Anja mit ihrer Wohnsituation: Sie bewohnt ein tückenhaftes Smart Home auf The Berg: dem von der „Finster Corp.“ als Deal mit der Stadt zum Ausgleich für alle anderen, mittlerweile bebauten städtischen Grünflächen errichteten und bewirtschafteten No-Waste-Principle-DINK-Öko-Berg auf dem Tempelhofer Feld (variiert nach einer von dem Architekten Jakob Tigges entliehenen Idee von 2009 für eine Nachnutzung des Tempelhofer Flughafens, woraus Wilk keinen Hehl macht).

Eine Realitätsstörung wie The Berg könnte in diesem Sinn nach Science-Fiction klingen; etwas, das „Oval“ jedoch weder verspricht noch sein will. Statt der Idee, einen Roman auf einem Tempelhofer Berg anzusiedeln, sagt Wilk, hätte sie auch über die Idee schreiben können, ein Schloss in der Mitte Berlins zu errichten – und in beiden Fällen hätte man die Idee erst einmal für abwegig gehalten.

Die Realität, so Wilk, sei eben immer schräger, als man sich zugesteht, weshalb sie von ihrem Buch als der Beschreibung einer „alternativen Realität“, einer lediglich vergrößerten Version allgemein wahrgenommener Realität spricht: „Wenn man die Realität von außerhalb betrachtet, entfremdet sie sich“, beschreibt sie ihren Ansatz und kommt auf Kurt Vonneguts Methode zu sprechen, Wirklichkeit so zu erzählen, als ob man sie einem Alien erklären müsse. Etwa eine Vernissage auf diese Weise zu beschreiben (in „Oval“, wie vieles andere, geglückt) ersetzt dann schon mal auf so zynisch-zerlegende wie amüsante Art zwei Semester Kunstsoziologie.

Vonneguts Methode: Wirklichkeit so zu erzählen, als ob man sie einem Alien erklären müsse

Das Berlin in Wilks Buch ist eines, das irgendwann in den letzten zehn Jahren einen anderen Weg eingeschlagen haben muss. Diese Art von im Unsicheren gelassener Wirklichkeitsverschiebung ist es auch, wodurch sie ihr Buch in die „The New Weird“-Regale der (derzeit vor allem noch amerikanischen) Buchhandlungen eingeordnet sieht. Das ist jener Begriff für eine zeitgenössische, dem magischen Realismus nahestehende Literaturgattung, an dessen Verbreitung die unter anderem für Kunst- und Kulturmagazine schreibende Autorin Wilk selbst keinen geringen Anteil hat.

Sie spricht schnell, konzen­triert, die Themen verknüpfen sich scheints in Nanosekunden. Dass sie auf Podien sitzt, Vorträge hält, merkt man ihrem Gedankenfluss an. Die Müslischale wird nicht leer. Die Dia­loge in „Oval“ habe sie teilweise im Rollenspielverfahren mit Studierenden ermittelt, als Lehrbeauftragte an der UdK – am Institut für Kunst im Kontext. Neben Büchern von Autor/innen wie Don DeLillo oder Doris Lessing nennt Wilk vor allem Tom McCarthys letzten Roman „Satin Island“ über einen in sich loopenden Gedanken gefangenen Berater als wichtigen Einfluss auf ihr Buch – was sich beim Lesen spätestens dort bemerkbar macht, wo der Protagonist aus McCarthys Buch einen Cameo in „Oval“ hat. Und wie in „Satin Island“, einer Reflexion über das Starren auf Bildschirme, findet auch in „Oval“ Wirklichkeit immer nur mittelbar statt.

Denn für Anja und ihre prekären Clubgänger-Freund/innen stellen sich die vielen Obdachlosen, denen sie morgens nach dem Baron auf der Straße begegnen, als nur scheinbarer Einbruch des Realen (in diesem Fall: des Sozialen) dar. „The apocalypse ist not very evenly distributed“, variiert Wilk im Gespräch jenen bekannten Satz des Science-Fiction-Autors William Gibson, nach dem die Zukunft zwar bereits hier sei, nur eben sehr unregelmäßig verteilt: Es gehört zu den interessanten Momenten des Buches, dass ausgerechnet die vermeintliche Entwicklung empathischer Gefühle für die Obdachlosen der Stadt der sonst so mit sich selbst beschäftigten Millennialgruppe den Kick gibt, eine Droge zu entwickeln, zu konsumieren und zu verteilen, die den Kapitalismus im Gehirn ausschalten und die Menschen in ein „pharmakologisches Utopia“ versetzen soll, in dem allen alles gegeben wird.

Aber ach, there’s no future in Berlin’s dreaming, denn selbstredend bewirkt die dem Roman den Titel gebende Droge nicht den Kommunismus auf Erden, sondern das Ende aller Berlinversprechen – was Romansätze wie: Berlin „was freedom – now it’s a trap“, oder: Berlin „isn’t postwar, post-Wall anymore – it’s pre-something else“, dann auch unmissverständlich als gemeine Prophezeiungen von einer erscheinen lassen, die ihre Berlinreißleine bereits gezogen hat.

Elvia Wilk: „Oval“. Auf Englisch. Soft Skull Press, 2019

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