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Das Bier unter der Dorfeiche

Der Castor spaltet, macht angst und gibt Arbeit. Aber die Dorfgemeinschaft sprengen, das kann er nicht. Wie 140 Luckauer mit dem Widerstand leben  ■ Von Thorsten Schmitz

Anneliese Hamann liebt den künftigen Schwiegersohn ihrer Tochter über alles. Aber verstehen tut sie Herbert nicht. Er macht sie sogar wütend. Und das soll schon was heißen: daß es noch etwas gibt, das eine 85jährige Frau auf die Palme bringt, die das Lachen für sich gepachtet hat.

Neben ihrem Fernseher steht das scheußliche „Ding“, das Herbert seiner Oma zum 85. Geburtstag aus 400 Meter Tiefe hervorgekratzt hat. Eine kniehohe Salzsäule aus dem Gorlebener Salzstock, in die er eine Glühbirne implantiert hat. Die doch nur gut gemeinte Wohnzimmerlampe ist für Anneliese Hamann wie ein Mahnmal: Dauernd wird sie daran erinnert, daß im paradiesischen Wendland hochaktiver Atommüll begraben liegt. Dieses Geschenk, nörgelt Anneliese Hamann, „hätte nu so ja nich sein müssen“. Wenn Frau Hamann Tatort guckt, schiebt sie das Ding hinter den Fernseher.

Frau Hamann kann es auch nicht hören, wenn Herbert von „den Ganoven“ redet, die „das Chaos“ nach Gorleben brächten, „arbeitslose Ganoven“, wie Herbert meint. Man könne doch froh sein, sagt sie und schmiert sich ein Butterbrot mit selbstgekochter Brombeermarmelade, „wenn hier einer überhaupt Arbeit findet“. Herbert schüttelt den Kopf und macht sich, eine Stunde früher als sonst, auf den Weg nach Gorleben. Die Angestellten treffen sich in diesen Tagen hinterm Betreibergelände und gehen gesammelt zur Arbeit. „Einzeln kämen wir da nicht durch.“

Die Seele von Luckau heißt Anneliese Hamann. Die Dorfälteste ist hier geboren. In grünem Pulli und kleinkariertem Kittel sitzt Frau Hamann in einem Campingstuhl auf einem geblümten Campingkissen vor der Haustür und guckt jedem Auto hinterher. Das ist ihre Lieblingsbeschäftigung, neben dem Kartoffelschälen: „Man muß doch wissen, wer bei uns rummacht.“ Gerade passiert Stefan Ritter, 20, ihren Logenplatz. Frau Hamann weiß, wo Stefan „hinmacht: nach Dannenberg, zur Mahnwache“. Einen schöneren Platz als Luckau, den 140-Einwohner-Klecks 20 Kilometer südwestlich von Gorleben, kann sie sich nicht vorstellen. „Das soll einem doch auch gefallen, man ist ja nun hier.“ Und wenn sie ehrlich ist, und die Apfelbäckchen glühen rot, dann findet sie Herberts Beschäftigung bei der Brennelement Gorleben GmbH „keinen Weltuntergang“. Hauptsache er heiratet bald, das Kind ist ja schon unterwegs.

Luckau ist das vorbildlichste Dorf im Kreise Lüchow-Dannenberg. Der Riß Pro Castor/Contra Castor geht durch Familien zuweilen, und doch bleibt die Harmonie intakt. Manchmal schreien die Luckauer sich sogar richtig an – aber man ist sich deswegen nicht gleich spinnefeind. Stefan Ritter, der tatsächlich nach Dannenberg gefahren ist, mußte sich erst gestern auf einer Party anhören, er solle doch einen Laden für Eisensägenverleih aufmachen. „So dumme Sprüche muß ich mir gefallen lassen. Aber trotzdem“, und das hält ihn in Luckau, „behandeln wir uns mit Respekt.“ Bei einer Feuerwehrübung am frühen Abend, bei der zehn Luckauer auf einem Feldstück hinterm Dorf einen „Verkehrsunfall mit Menschenrettung“ proben, hängen dieselben Freunde an Stefans Lippen, als er erzählt, daß der Castor vielleicht früher als angekündigt kommen soll. Einer fragt Stefan, ob er ihn nicht mitnehmen könne.

Sogar der Bürgermeister von Luckau, ehrenamtlich mit Dorferneuerung beschäftigt und hauptberuflich ökologisch korrekt düngender Landwirt im Nebendorf Zargleben, staunt über das kumpelhafte Miteinander der Luckauer: „Hier trinken die Gegner abends drei Bier, und alle Gegensätze sind verschwunden.“ Das sei „so“ nicht üblich in einer Gegend, die zu den am dünnsten besiedelten der alten Bundesrepublik zählt und zur politisch hellwachsten. Eigentlich müßte Jochen Kulow auch über sich selbst staunen. Weil er angeblich im letzten Jahr, als der erste Castor nach Gorleben transportiert wurde, mit seinem Traktor den Arm eines Polizisten gestreift habe, wurde ihm der Führerschein entzogen. Nun muß Kulow sich ständig fahren lassen; das kostet Nerven und viel Zeit. Den Führerschein abgenommen haben ihm zwei Polizisten, mit denen er im selben Verein Faustball spielt.

Vier Jahrzehnte lag Luckau, in Spuckweite von der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze entfernt, in einer geographischen Falle, die nur nach Westen offen war. Die großen Verkehrswege machten einen Bogen um das Wendland, desgleichen die Investoren arbeitsplatzschaffender Ansiedlungen. Die Wende hat dem gediegenen Dorf nicht nur Lehrer und Pastoren aus deutschen Großstädten beschert, sondern auch die Insellage entzerrt. Heute kommt der Bus zur nächstgrößeren Stadt sogar dreimal täglich, morgens, mittags, nachmittags. In Luckau knattern die Traktoren, huschen die Hühner über die Wiesen, flechten Mädchen aus Löwenzahnstengeln Haarschmuck. Die Kinderbuchdorfidylle ist perfekt, inklusive Mittagsruhe und Gemeinschaftserlebnis „Freiwillige Feuerwehr“.

Fast perfekt.

Denn baumwipfelhoch knattern gerade jetzt die Helikopter vom Bundesgrenzschutz über allem, was ihnen verdächtig erscheint. Wenn sich Anneliese Hamann alle zwei Wochen mit weiteren sieben dorfansässigen Witwen zum Klönen trifft, „dann können wir es nicht vermeiden: Wir reden auch über Gorleben“. Bei Butterkuchen und belegten Broten, einem Glas Wein und einem kleinen Likör sind die Damen sich einig: „Das müßte alles nicht sein.“ Gorleben macht den Damen angst. Die kann ihnen auch nicht Herbert nehmen, wenn er seine Oma zu den Treffs bringt und vom „sicheren Gorleben“ erzählt. „Wir wissen es besser“, sagt Anneliese Hamann.

In einem sind sich alle Luckauer einig: Ohne Gorleben vor der Tür, ohne die Castor-Transporte wäre die Welt im Dorf noch in Ordnung. Doris Müller, 32, die aus Holz Kunst zaubert, wacht manchmal nach Sitzblockaden nachts auf, träumt von Menschenmassen und dem „Ding“. Sie meint die Castor- Kokille und verzieht dabei das Gesicht, als handele es sich um ein Monster. Letztes Jahr, als der Castor gekommen war, brach sie „innerlich zusammen“, schloß sich in ihr Zimmer ein, weinte. Ihr Mann Harald, 35, kann sich in Tagen wie diesen „auf nichts“ konzentrieren, jede Demonstration macht ihn „völlig fertig“. Zur Ablenkung spielt er bei der Freiwilligen Feuerwehr den Bewußtlosen, der gerettet werden muß.

Werner Rieck, 40, der vor ein paar Jahren von gewöhnlicher auf biodynamische Landwirtschaft umgesattelt hat, protestiert nun mit Bauern-Kollegen per Traktor gegen das Atomklo Gorleben. Der Protest am vergangenen Samstag hat ihn so aufgeregt, daß ihn noch nicht mal seine Lieblings-CD beruhigen konnte. „Ich mußte anderthalb Stunden pflügen, was der Boden hergegeben hat – Aggressionen abbauen.“ Und die studierte Sozialpädagogin Meike Brinkop, 35, die vor acht Jahren aus Hannover nach Luckau gezogen ist und sich ein Leben anderswo nicht mehr vorstellen kann, findet: „Was die hier mit uns machen, ist Mord.“

„Der Castor“ hat zwar auch in Luckau seinen Spalteffekt entfaltet, aber keine Gräben gerissen, so wie in anderen Dörfern, wo man sich nicht mehr grüßt. Es ist früher Abend, der Dorfstorch räkelt sich im Nest zurecht, und Frau Hamann guckt die Tagesschau, da radelt Andreas Schütte zu Meike Brinkop. Meike hat so schöne Fensterrahmen, Andreas, 29, will wissen, woher. Als Elektroingenieur versucht Andreas, das Wendland mit Windrädern und Solarenergie zu beglücken. „Das ist mein Widerstand gegen Gorleben.“ Meike ist arbeitslos – und mächtig aktiv. Sie protestiert, organisiert Ausstellungen und Frauentreffs. Ihr Tag müßte 48 Stunden haben. Andreas sieht seine Nachbarin eher selten. Und auch heute will Andreas sowieso mit Meike nur über Fensterrahmenlieferanten reden. Das tun sie auch. Aber schon nach zehn Minuten sind beide – das ist Luckau – in eine Diskussion über Gewalt im Widerstand verstrickt.

Andreas schlürft Tee aus Südafrika – und fragt sich laut, ob er an Demonstrationen noch teilnehmen kann. „Das mit den Baumstämmen ist nicht gut.“ Meike denkt anders: „Das ist doch symbolisch gemeint. Solange keine Menschenleben gefährdet werden...“ Aber dabei bleibe es doch nicht, insistiert Andreas betont zurückhaltend, als könne er Meike als gute Nachbarin verlieren, außerdem trauten sich viele schon gar nicht mehr mitzudemonstrieren, „weil sie Angst haben vor den Autonomen“. Mit ihren Teetassen ziehen die beiden ins Wohnzimmer um, gleich kommen Nachrichten, und Meike bleibt luckauisch konziliant: „Andreas, die schmeißen Steine aus Verzweiflung.“ Als der Beitrag in der „heute“-Sendung Demonstranten zeigt, die Gorlebener Polizisten Löwenzahn an die Uniform heften, triumphiert Meike: „Siehst du, das ist auch eine Aktionsform.“ Andreas, bisher eher passiver Atomgegner, lächelt – er wird sich Mittwoch freinehmen.

Die Angst, daß die Prospektidylle eines Tages zur Sperrzone erklärt werden könnte, lastet auf jedem Luckauer. Auf Werner Rieck nicht erst seit dem ersten Castor- Transport. Sein Aha-Erlebnis hatte der grüne Bauer, als er, „nur mal so aus Neugier“, an einer Besichtigung im Endlager teilnahm. Da fragte Rieck den in Zahlen schwelgenden Atompromotoren, was denn, bitte schön, mit „dem Faktor Mensch sei“. Dem Besichtigungsführer fiel auf die Frage „rein gar nichts ein, der schwieg und wechselte das Thema“.

Rieck ist aktiv im „Widerstand“, wie überhaupt alle Luckauer das Wort Widerstand wie selbstverständlich in ihrem Wortschatz führen. In seinem Wohnzimmer treffen sich Bauern aus der Umgebung und entwerfen einen Plan für den „Tag X2“, auch wenn er „weiß, daß wir den Castor nicht verhindern können, höchstens teuer machen“. Auf den ersten Blick hat Rieck nichts mit den Atomgegnern an vorderster Front gemein. Er geht gerne auf die Jagd, und im Wohnzimmer hängen die Geweihe, er hört für sein Leben gern Volksmusik, und er kauft auch bei Aldi ein. „Ich bin kein Demeter-Betrieb und nicht in der BI“, betont er seine Unabhängigkeit, „ich habe Angst um meine Familie, um unsere Existenz.“ Irgendwann wird er seine Milch und seine Möhren nicht mehr los, aus denen jetzt noch Babynahrung gekocht wird. Vor ein paar Wochen wurde die Vermutung zur Gewißheit: Ein Qualitätsprüfer, der Riecks Produkte jedes Jahr auf ihre biodynamische Herkunft kontrolliert, bemängelte in seinem Zertifikat die Nähe von Riecks Hof zu Gorleben. „Das war ein Schlag ins Gesicht.“ Der ihn tief getroffen haben muß: Als der Prüfer gegangen war, schwang sich Werner Rieck auf seinen Traktor und verschwand für eine Stunde: „Pflügen ist wie Weinen.“ Und wenn das Pflügen auch nicht hilft, setzt sich Rieck unter die Eiche in der Mitte des Dorfes. Trinkt ein Bier oder zwei und wartet, daß jemand ihm Gesellschaft leistet. Es kommt immer jemand von den Luckauern; und welche Meinung der hat, ist dann nicht das Wichtigste: „Wir sind wie eine große Familie.“

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