„Da tickt eine sozial-ökologische Bombe“

Kredite wie noch nie hat die öffentliche Hand im Zuge der Coronakrise aufgenommen: Rudolf Hickel warnt davor, in eine Tilgungs-Logik zu verfallen und empfiehlt Bremen, die Schuldenbremse zu lockern

Explosive Last: Schulden begleichen kann zerstörerischer sein, als sie zu haben. John Malkovich im Film R.E.D. Foto: Everett Collection/Imago

Interview Benno Schirrmeister

taz: Herr Hickel, muss Deutschland jetzt den Sozialstaat kaputtsparen?

Rudolf Hickel: Das ist genau das Thema. Die Gefahr droht, weil ja durch die Coronakrise staatliche Schulden sich aufgestaut haben. Nach der bisherigen Finanzplanung sind das bis 2023 minimal 452 Milliarden Euro beim Bund, für die Länder kommen noch über 60 Milliarden dazu.

Trotz Schuldenbremse?

Die wurde wegen der im Artikel 115 Grundgesetz vorgesehenen „außergewöhnlichen Notsituation“ ausgesetzt. Diese Regel gilt auch nach der Landesverfassung in Bremen. Allerdings hat unter dem Druck der damaligen Finanzsenatorin Bremen im Vergleich zu den anderen Bundesländern mit die schärfste Fassung der Schuldenbremse eingeführt.

… die grüne Finanzsenatorin Karoline Linnert …

Derzeit verbietet die Landesverfassung den für öffentliche Investitionen eingerichteten Beteiligungsgesellschaften die Kreditfinanzierung ohne Anrechnung auf die Landesschuldenbremse. Das ist eine totale Hardliner-Regelung, die wir hier haben, eine Spätfolge grüner Ideologie von der Erblast künftiger Generationen. Dabei vererben wir heute mit dem Verzicht auf kreditfinanzierte Infrastrukturinvestitionen etwa in die Umwelt künftig schwere Lasten.

Aber das Grundgesetz fordert, dass dann „die Rückführung der Kredite binnen eines angemessenen Zeitraums“ zu erfolgen habe …

Genau. Das ist die Achillesferse. Der Vortrag, den ich heute bei Attac halte, hat den Zweck, aufzulisten, was das alles gekostet hat, wie das finanziert worden ist – und warum das derzeit komplett problemlos möglich ist. Wenn wir solche Schulden in den 1970er- oder 80er-Jahren aufgenommen hätten, wäre es ja zu einer Palastrevolution gekommen in Deutschland.

Wieso geht es denn jetzt?

Jetzt wissen alle: Erstens haben wir niedrige Zinsen, ja der Staat verdient wegen der Aufschläge auf die Bundesanleihen. Zweitens: Die Schulden lösen auch keine Inflation aus. Und das dritte klingt kurios: Die Anleger, die immer als die scheuen Rehe dargestellt werden, sind trotz der Minusrenditen auf der Jagd nach diesen Bundesanleihen. Gegenüber den instabilen Alternativanlagen auf den Finanzmärkten gilt der Staat als „safe haven“. Der Staat wird von den profitwirtschaftlichen Fonds als verlässlicher Kreditnehmer identifiziert.

Nur schlägt dann die Pflicht zur Tilgung zu. Oder kämen wir da raus?

Wie man mit diesen angestauten Schulden umgeht, ist entscheidend. Die eine Möglichkeit, die ich scharf kritisiere, wäre die Rückzahlung zu forcieren. Da tickt eine sozial-ökologische Bombe. Wenn man jetzt veranschlagt, 400 Milliarden Schulden laufen beim Bund bis Ende der Coronakrise auf, dann müssten bei 20 Jahren Tilgung jedes Jahr 20 Milliarden abgebaut werden – mithilfe von Steuererhöhungen oder viel wahrscheinlicher durch drastische Kürzungen von Staatsausgaben. Die Folge wäre eine auch gesamtwirtschaftliche Katastrophe. Die zweite Strategie ist die der Bundesregierung, genauer von Olaf Scholz: Der setzt einfach darauf, dass wir nach Corona mit einem Wachstums-Bumms oder -Wumms, aus den Schulden rauswachsen. Das halte ich ökonomisch für naiv und ökologisch gefährlich. Die dritte Möglichkeit, die international unter dem Label „Modern Monetary Theory“ viel diskutiert wird, geht davon aus, dass der Staat unter Ausschluss des Bankensystems die Schulden schafft, die er braucht.

Klingt simpel. Wo ist der Haken?

Foto: Ingo Wagner/dpa

Rudolf Hickel 79, Wirtschaftswissenschaftler, lehrte von ihrer Gründung an Finanzwissenschaften an der Uni Bremen, ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac.

Der politische und juristische Druck der Protagonisten des schuldenfreien Staats ist riesig, die Schulden schnell abzubauen. Deshalb ist mein Vorschlag: Wir gründen einen Corona-Solidarfonds, bundesweit, in dem alle durch Corona bedingten Kredite des Bundes, der Länder und Gemeinden zusammengefasst werden. Aufgelegt wird eine einmalige Vermögensabgabe, gezielt auf das oberste Prozent der Vermögenden, die über rund 35 Prozent des Reichtums verfügen. Diese Idee vom gerechten Lastenausgleich hat Andreas Bovenschulte bereits im März letzten Jahres eingebracht.

Warum denn einmalig?

Einmalig soll nicht bedeuten, dass diese Abgabe innerhalb eines Jahres beglichen werden soll. Wie beim Lastenausgleich 1952 ist die Bezahlung der einmaligen Abgabe auf mehrere Jahre auszudehnen. Diese Vermögensabgabe dient der Abfinanzierung des Fonds für coronabedingte Schulden.

Und ich hatte gedacht, wie gut, dass Deutschland keine Vermögenssteuer hat, weil es die jetzt einführen kann …!

Das kann man so sehen, stimmt. Man könnte auch eine allgemeine Vermögenssteuer einführen, um diese auch für die Tilgungsfinanzierung einzusetzen. Aber ich würde es eher zuspitzen, auf eine zweckgebundene einmalige Abgabe. Wichtig ist, dass wir uns über solche Strategien Gedanken machen. Denn wir brauchen eine Alternative gegen eine brutale Austeritäts- und Sparpolitik.

Das ist in der Modern Monetary Theory nicht vorgesehen.

Diese auch innerhalb von Attac intensiv diskutierte unbegrenzte Schuldenfinanzierung für sinnvolle Staatsausgaben hebt die bisherige Geldpolitik aus den Angeln. Da gibt es auch Gegenkritik. Wir können uns bei der Finanzierung der Tilgung für die aufgelaufenen Coronaschulden nicht der Verteilungsfrage entziehen: Zahlen’s die sozial Abhängigen oder die Vermögenden. Das ist auch deshalb schon richtig, weil die deutlich weniger unter der Coronakrise gelitten und Opfer gebracht haben, als die sozial Benachteiligten.

Wir haben von der globalen, der europäischen und der Bundes-Ebene gesprochen. Hat ein Land wie Bremen in diesen Debatten überhaupt die Möglichkeit, sich zu positionieren?

Mit dem Bremen-Fonds von 1,2 Milliarden Euro haben wir es hier eigentlich richtig gemacht: Mit dem werden nicht nur normale Maßnahmen finanziert, sondern da ist auch ein ökologischer Transformationsfonds drin – das ist vernünftig. Aber nach der derzeitigen Finanzplanung muss das Land ab 2024 tilgen: Da kommen dann deutliche finanzielle Belastungen auf Bremen zu.

Und was ist dagegen zu tun?

„Das ist eine totale Hardliner-Regelung, die wir hier haben, eine Spätfolge grüner Ideologie von der Erblast künftiger Generationen“

Bremen kann natürlich nicht im Alleingang die Schuldenbremse abschaffen. Das geht nicht. Aber vielleicht lässt sie sich etwas entschärfen – etwa auch durch eine längere Tilgungsfrist bis zu 50 Jahren und eine weite Auslegung der konjunkturell zulässigen Verschuldung. Rangegangen werden sollte an die Pflicht, auch die Kredite staatlicher Beteiligungsgesellschaften auf die Schuldenbremse anzurechnen. In anderen Bundesländern gibt es die nicht, namentlich in Hamburg. Da würde ich sagen: Lasst uns doch wenigstens das wieder ermöglichen.

Auch dafür bräuchte man eine Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft.

Aber was ist die Alternative? Wenn wir hier keinen Spielraum schaffen, muss Bremen über die 80 Millionen Euro hinaus, die es laut Sanierungsvereinbarung jährlich zu tilgen hat, ab 2024 jedes Jahr mindestens 184 Millionen Euro zurückzahlen. Das wäre das Ende jeder öko-sozialen Transformationspolitik.

Wer zahlt die Kosten der Coronakrise? Online-Seminar, Attac Bremen, 21. April, 19 Uhr

Zugangslink zum Webinar:

https://vk.attac.de/b/att-ip1-h9r-ynf sowie über www.attac-netzwerk.de/bremen