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DVD über MolièreKontrolliert entfesselt

Das Theater wird Kino, das Kino wird Theater: Ariane Mnouchkines aufwendige Filmbiografie "Molière".

In Ariane Mnouchkines "Molière" wird kein Schiff übers Gebirge gezogen wie vier Jahre später in Werner Herzogs "Fitzcarraldo". Aus Venedig kommend sind aber immerhin drei Gondeln unterwegs über den Schnee in den Alpen. Und kaum weniger monumental als eine Herzog-Produktion war das Projekt dieses Films. Mnouchkine und das von ihr angeführte Kollektiv des "Théâtre du Soleil" waren zu Ruhm gekommen mit großen Theaterproduktionen wie "1789" und einer Shakespeare-Trilogie, deren Inszenierungen vom japanischen Kabuki-Theater inspiriert waren. Es gab eine Verfilmung der Inszenierung von "1789", aber mit dem Kino hatten Mnouchkine und ihre Truppe sonst keine Erfahrung.

Dann setzten sie sich "Molière" in den Kopf. Es gab eine Krise, erzählt Mnouchkine im Gespräch auf der DVD, und um der Gefahr der Routine zu entgehen, habe man etwas ganz Neues riskiert: einen biografischen Film zu Molière. Das "Théâtre du Soleil" fand im Chef des Fernsehsenders "Antenne 2" und bei der italienischen RAI Unterstützer, man verzichtete auf das Engagement von Filmstars, und als dann am Ende das Budget doch überzogen war, sprang Mnouchkines Vater ein. Vier Stunden war der Film am Ende lang (es gibt auch eine fünfstündige Fernsehversion), es wurde ein riesiges Zeitpanorama daraus, eine aufwendige Reimagination des 17. Jahrhunderts. "Molière" wurde beim Filmfestival von Cannes gezeigt und von der französischen Kritik geschlachtet. Der Hauptdarsteller Philippe Caubère überwarf sich mit Mnouchkine und startete eine einzigartige Solokarriere als Bühnenselbstdarsteller seines eigenen Lebens.

Der Film folgt der Biografie Molières chronologisch, macht aber von Anfang an klar, dass er die Fesseln der konventionellen Biopic-Dramaturgie zu sprengen gedenkt. Wir sehen Urszenen von Molières Spiel- und Schauspielbegeisterung, wir sehen den Tod der Mutter, Auseinandersetzungen mit dem Vater, die Begegnung mit einer über Land ziehenden Truppe. Man sieht die von der Commedia dellArte inspirierten Schwänke, es kommt zum ersten festen Engagement, dann zur Einladung nach Paris, Molière hat Erfolge als Chefautor seiner Truppe in den Diensten des jüngeren Bruders Ludwigs XIV., dann wird er gemeinsam mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lullygar als Organisator von Festen am Hof von Versailles angestellt. Auch das Private, die Beziehung erst zur Schauspielerin Madelaine Béjart, dann zu ihrer Tochter Armande, lässt der Film nicht weg.

Dies alles aber wird, einer gelegentlich zusammenfassenden Erzählerinstimme zum Trotz, nebeneinandergestellt und nicht zusammengezwungen zur psychologisierenden Erklärung eines Lebenswegs. "Molière" begreift seinen Titelhelden nicht so sehr als Mittelpunkt, sondern eher als Attraktor, stellt ihn sehr bewusst hinein in eine Szenenfolge bewegter Bilder aus seiner Zeit. Mehr als tausend Kostüme wurden eigenhändig genäht, der Bühnenbildner der Truppe lernte, Filmsets zu entwerfen, zwischen denen sich nun die Massen bewegen. Einer der nicht wenigen Höhepunkte des Films ist eine große Karnevalsszene als Getümmel, in das sich die Kamera, als wäre sie direkt dabei, hineinbegibt.

"Molière" ist hier und immer eine Abfolge von Tableaus, die aber vollständig verlebendigt sind. Durch Bernard Zitzermanns stets aktive Kamera, die das Geschehen nicht in Rahmen zwingt, sondern neugierig sich bewegt zwischen den Menschen und die große Szene so in kleinere Szenenwirbel auflöst. Die Massen sind nie als Ornament inszeniert und choreografiert, sondern immer als Mit- und Durcheinander der Agierenden und Aktionen. Man könnte von einer Methode der sehr kontrollierten Entfesselung sprechen, einer Bindung und Entbindung von Kräften zugleich, die in der großartigsten Szene des Films kulminiert. In rasendem Stillstand treten die Darsteller, den sterbenden Molière in den Armen, auf den Treppen eines Schlosses auf der Stelle. Die Kamera macht daraus um ein Haar eine realistische Bewegungsillusion - und dann eben doch wieder nicht. "Molière" endet so ganz konsequent auf der Schwelle zwischen Theater und Kino, als Film werdendes Theater, Theater werdender Film.

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