DIW-Chef über Steuersenkungen: "Der Staat ist zu mager geworden"
Höhere Steuern sind durchaus tragbar, meint der Ökonom Gert G. Wagner. Statt einer Entlastung der Mittelschicht plädiert der Berliner Professor für höhere Investitionen in die Bildung.
taz: Herr Wagner, die Bundesregierung debattiert über die nächste Steuersenkung. Welche Argumente sprechen dafür?
Gert Wagner: Steuern senkt man vor allem, um die Wirtschaft zu beleben. Das ist augenblicklich jedoch nicht notwendig, denn die Konjunktur läuft sehr gut. Deutschland wird auch dieses Jahr ein sattes Wachstum erreichen.
FDP, CSU und Teile der CDU wollen niedrige und mittlere Einkommen entlasten. Ist es notwendig, dort für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen?
Gerechtigkeit ist eine sehr subjektive Kategorie. Deswegen stellt auch alles, was ich dazu sage, meine rein persönliche Meinung dar - ich spreche hier nicht für das DIW. Tatsache ist: Beschäftigte mit kleinen Einkommen zahlen heute keine oder wenig Steuern. Eine Senkung dort würde deshalb kaum Entlastung bedeuten. Spürbar sind dagegen die Sozialbeiträge, die auch bei kleinen Einkommen in voller Höhe erhoben werden. Wenn deshalb Teile der Union und der SPD darüber diskutieren, die Sozialbeiträge im unteren Bereich zu senken, finde ich das nachvollziehbar.
Entlastungen kosten Geld. Dabei nimmt Finanzminister Schäuble allein dieses Jahr rund 30 Milliarden Euro neue Kredite auf. Erreicht die Verschuldung nicht allmählich die Grenze des Tragbaren?
Sicherlich ist es vernünftig, die Schulden nach der Finanzkrise wieder zu senken. Aber Überschuldung? Nein. Kein einziger Indikator zeigt an, dass ein deutscher Staatsbankrott zu erwarten wäre oder unser Staat Probleme hat, die Zinsen zu zahlen. Außerdem könnten wir mit wenigen Federstrichen unsere Einnahmesituation entscheidend verbessern. Denn die Belastung der oberen Einkommen liegt international betrachtet nur im Mittelfeld. Wenn sich die Regierung entschließen würde, die Steuern für hohe Einkommen oder die Erbschaftsteuer zu erhöhen, könnten wir die Schuldenlast abbauen und sogar wieder ein wenig mehr investieren.
Gert G. Wagner, 58, leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Volkswirtschaft an der TU Berlin.
Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent, wie er früher existierte, wäre also nicht schädlich?
Ich persönlich halte das für grundsätzlich tragbar - ohne mich für diesen Prozentsatz aussprechen zu wollen. Die Politik muss selbst entscheiden, für welchen Steuertarif sich eine Mehrheit finden lässt.
Das DIW hat in den vergangenen Jahren mehrmals ein Schrumpfen der Mittelschicht diagnostiziert. Ist es deshalb nicht nachvollziehbar, sie entlasten zu wollen?
Sicher, der Anteil der mittleren Einkommen im Vergleich zu den unteren und oberen Schichten hat in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Deswegen ist die deutsche Mittelschicht als soziale Kategorie aber noch lange nicht in ihrem Bestand gefährdet. Die eigentlichen Probleme sind das Anwachsen niedriger Einkommen und die Dauerarbeitslosigkeit in bestimmten Schichten. Und da helfen ein paar Euro mehr im Monat für die Mittelschicht gar nicht. Viel besser wäre es deshalb, das Geld dafür auszugeben, die öffentliche Infrastruktur zu verbessern.
Ist der Staat in den vergangenen 25 Jahren zu mager geworden?
Das meine ich allerdings. Schauen Sie sich nur die Infrastruktur an. Viele Schul- und Universitätsgebäude sind in jämmerlichem Zustand. Von den Straßen und Bürgersteigen etwa in Berlin ganz zu schweigen. Die Erkenntnis drängt sich auf: Es gibt legitime Aufgaben des Staates, und die müssen auch finanziert werden.
Die Koalition will laut Unionsfraktionschef Volker Kauder im Herbst ausloten, welche Steuern 2013 gesenkt werden sollen. Ein sehr wahrscheinlicher Bestandteil der Reform: Der steuerfreie Grundfreibetrag von derzeit 8.004 Euro für Erwachsene könnte steigen, weil die Lebenshaltungskosten zunehmen und der Staat das Existenzminimum steuerfrei stellen muss. Finanzminister Wolfgang Schäuble argumentiert öffentlich zwar nach wie vor gegen eine Steuersenkung. Zugleich aber schafft er einen Spielraum, um sie doch zu ermöglichen. Nach einer Neuverschuldung des Bundes von rund 30 Milliarden Euro in diesem Jahr soll die Kreditaufnahme 2012 laut Haushaltsentwurf 27,5 Milliarden Euro betragen. Wegen der guten Konjunktur dürfte sie aber vermutlich eher bei 20 Milliarden liegen. 7 bis 8 Milliarden Euro stünden also für eine Entlastung zur Verfügung. HANNES KOCH
Die Regierung hat bereits mehrere Milliarden-Programme aufgelegt, um Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten besser auszustatten. Warum ist jetzt noch mehr Geld nötig?
Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland nur bei den An- und Ungelernten dramatisch gestiegen ist. Abiturienten haben dagegen praktisch die gleichen Chancen wie früher. Was nicht verwunderlich ist: Unsere exportorientierten Industrie- und Dienstleistungsfirmen brauchen gut ausgebildete Beschäftigte.
Aktuelle Umfragen ergeben, dass nur noch eine Minderheit der Bundesbürger für Steuersenkungen plädiert. Wie erklären Sie sich diesen Stimmungswandel?
Die Menschen erkennen, dass der Staat Steuern einnehmen muss. Einzelne Vermögende verlangen sogar, die Regierung solle sie und ihresgleichen stärker zur Kasse bitten. Diesen Steuerzahlern ist klar, wie sehr ihre hohen Einkommen auf der guten Bildung basieren, die sie im öffentlichen Schulsystem erhalten haben. Und sie wissen, dass ererbtes Vermögen - auch wenn es für manchen eine Bürde darstellt - im wahrsten Sinne des Wortes unverdient ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül