DIE SPD IGNORIERT DEN OSTEN: DAS WIRD DIE WAHLEN ENTSCHEIDEN: Chefsache Ost ohne Chef
Auf den Osten kommt es an! Mit diesem Schlachtruf zogen die Sozialdemokraten im Bundestagswahlkampf 1998 in den Endspurt. Sie bekamen damals, was sie wollten: Alle Wahlanalysen kamen zu dem Ergebnis, dass das Stimmverhalten der Ostdeutschen den Regierungswechsel ermöglicht hat. Zweistellig wurden die „blühenden Landschaften“ des Helmut Kohl abgestraft.
Doch anders als die Sozialdemokraten bekam der Osten nicht, was er wollte: Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten sind mies zum Auftakt des Wahljahres 2002. Und nie waren die Signale des Kanzlers so entmutigend: Seine „Politik der ruhigen Hand“ nannte man bei Helmut Kohl schlichtweg „Aussitzen“. Nicht einmal auf der gestrigen SPD-Fraktionsklausur, die sich ausdrücklich mit der Arbeitsmarktpolitik beschäftigte, kam der Osten als gesondertes Thema vor. Nicht dass von einem solchen Treffen sofort spürbare Impulse zu erwarten seien – Schröder aber hätte das Signal setzten können: „Der Osten ist mir wichtig“.
Dieses Signal wäre dringend nötig: Ein recht wirkungsloses Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, ein gerade erst anlaufendes Städteumbauprogramm, touristische Sommertouren oder die Planstelle „Staatsminister Ost“ – das, was die Sozialdemokraten gern als Erfolge verbuchen, wird vor Ort kaum als besondere Zuwendung empfunden. Selbst der Solidarpakt II stellt – nach allen Untersuchungen der Wirtschaftsinstitute – gerade mal das Existenzminimum bereit.
Besser blieb im Gedächtnis der Ostdeutschen die Faulenzerdebatte haften, die der Kanzler angezettelt hat. Auch die Mahnung des Bundestagspräsidenten – der Osten stehe auf der Kippe – hat sich festgesetzt. Es ist genau ein Jahr her, dass Wolfgang Thierse mit diesem provokanten Bild mehr regierungsamtliches Engagement einforderte. Schröder überging dies bisher. Auch das hat sich dem Ossi vulgaris eingeprägt.
Obwohl die Zeit der Regierungsbilanzen noch deutlich vor uns liegt, muss heute schon festgestellt werden: Schröder hat den Osten unterschätzt. Als Erstes wird die SPD in Sachsen-Anhalt die Folgen spüren: In Deutschlands Armenhaus wird im April gewählt. Gegen Ministerpräsident Höppner tritt eine völlig blasse CDU an, die aber dennoch in den Umfragen überdeutlich an der Spitze liegt – erstmals seit fünf Jahren. Was schließlich ist der Unterschied zwischen einer blühenden Landschaft und einer Chefsache Ost? Vorgestern schwarz, gestern rot – der Osten wählt pragmatisch. Gelingt es Schröder nicht, bis zum Herbst zwischen Fichtelberg und Kap Arkona eine bessere Stimmung zu erzeugen, wird er merken: Auf den Osten kommt es an! NICK REIMER
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