DIE MEHRHEIT HAT NICHTS VOM AUFSCHWUNG: REALLÖHNE SINKEN WEITER: Die Baisse im Boom
Haben die Deutschen einen Knall? In Umfragen zeigen sich die Bundesbürger zwar zuversichtlich, dass die Wirtschaft auch in diesem Jahr wachsen wird, aber für sich selbst erwarten die meisten nichts mehr. Viele sind schon froh, wenn sie ihren Status halten können. Verlustängste mitten im Boom – das muss man den Deutschen erst einmal nachmachen. Das klingt nach „German Angst“, nach dieser grundlosen Dauerfurcht, über die sich die Nachbarländer so gern lustig machen.
Doch das pessimistische Bauchgefühl trügt die Deutschen nicht unbedingt, wie die jüngste Erhebung des statistischen Bundesamtes zeigt. Um ganze 1,2 Prozent sind die Tarifgehälter der Angestellten 2006 gestiegen, was noch nicht einmal die Inflation ausgleichen konnte. Und diese Zahlen sind sogar noch ins Positive verzerrt, weil nur die Tarifentgelte ausgewertet wurden. Tatsächlich jedoch verdienen viele Arbeitnehmer längst unterhalb der offiziellen Löhne.
Wer arbeitet, der verliert trotzdem. Das ist die Botschaft dieser nüchternen Zahlen. Selbst ein Boom kann den Abwärtstrend bei den Löhnen nicht mehr stoppen, was nun auch die Mittelschichten erreicht. Ungebremst wird das Volkseinkommen neu verteilt – weg von den Arbeitnehmern, hin zu den Kapitalbesitzern. Diese Entwicklung erschüttert das Selbstverständnis der Bundesrepublik, wurde sie doch bisher durch das Versprechen zusammengehalten, dass sich Leistung lohnen soll. Und zwar nicht nur für Manager.
Der latente Unmut hat die Parteien erreicht, wie eine weitere Nachricht von gestern zeigt: Die SPD will für einen Mindestlohn streiten. Auch die Sozialdemokraten finden nun, dass „man von seiner Arbeit leben können muss“. Das Ziel ist richtig, aber es deprimiert, was die Sozialdemokraten als „Leben“ bezeichnen. Schon ein gesetzlich garantierter Stundenlohn von 7,50 Euro ist ihnen deutlich zu viel, was in fast allen anderen westeuropäischen Ländern längst zum Standard gehört. Statt Armut zu verhindern, werden von der SPD Armutslöhne gefordert. Mitten im Boom. Wie wird es dann wohl erst bei der nächsten Krise? Kein Wunder, dass sich die meisten Deutschen fürchten.
ULRIKE HERRMANN
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