DIE ITALIENER STIMMEN MORGEN ÜBER DAS MEHRHEITSWAHLRECHT AB: Unlogik mit Methode
Verkehrte Welt. Da sind die Italiener am Sonntag zum Wahlrechtsreferendum aufgerufen – und sie erhalten von den beiden größten Parteien des Landes Empfehlungen, die ebenso uneigennützig wie unlogisch erscheinen. Silvio Berlusconis Forza Italia ruft zum Boykott auf, obwohl das mit dem Referendum angestrebte reine Mehrheitswahlrecht nach englischem Vorbild dem Block der Rechts-Parteien beim nächsten Wahlgang satte Mehrheiten verheißt. Und die Linksdemokraten trommeln für den Volksentscheid, obwohl ihre Regierungskoalition bei einer Wahl nach dem angestrebten Modus einer verheerenden Niederlage entgegenginge. Doch die scheinbare Unlogik hat Methode.
Ganz im Gefühl wachsender Stärke strebt Forza Italia vorwärts in die Vergangenheit, in die guten alten Zeiten der Ersten Republik und ihres Proporzsystems. 50 Jahre besetzte die italienische Christdemokratie die politische Mitte, war koalitionsfähig nach rechts wie nach links und deshalb mit wechselnden Juniorpartnern immer an der Macht. Eine verlockende Vision für Silvio Berlusconi – und ein Schreckensgemälde für die Linksdemokraten, von denen viele erst in den letzten Jahren die süßen Seiten des Regierungsgeschäfts kennen lernten. Denn das seit 1994 gültige Wahlrecht mit seiner starken Mehrheitskomponente erzwang die Polarisierung in zwei Lager, trieb den Ex-Kommunisten Bündnispartner zu – und erlaubte so endlich die Übernahme der Macht, obwohl der Mitte-links-Block weit unter 50 Prozent blieb.
Mit Recht fürchten die Linksdemokraten, sie könnten bei einer Rückkehr zum Proporzsystem wieder auf Jahrzehnte abseits stehen, isoliert am linken Rand. Doch ist das Grund genug, für ein Mehrheitswahlrecht zu fechten, dem jeder Dissens im Land jenseits zweier Mainstream-Blöcke zum Opfer fiele? Grund genug, der italienischen Parteienlandschaft ein bipolares Schema aus dem politologischen Modellbaukasten überzustülpen? Grund genug schließlich, das Heil der Partei in Wahlrechtsarithmetik zu suchen, statt endlich ernsthaft die Frage zu stellen, warum die italienische Linke Mehrheiten nicht begeistern kann? MICHAEL BRAUN
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