: DIE HARNONCOURT-SCHULE
■ Das Amsterdamer Concertgebouworkest mit Ricardo Chailly in der Philharmonie
Brahms‘ Zweite Symphonie gilt als die heitere. Geschrieben hat er sie 1877 am Wörthersee, während eines Sommers auf dem Lande - für seine erste hatte er fünfzehn Jahre gebraucht. Eine Pastorale, eine musikalische Nettigkeit - nett wird sie in der Regel auch gespielt.
Die Amsterdamer haben die Partitur genauer gelesen. Zum Beispiel den ersten Satz: Kurz vor der Reprise kommt es zur dramatischen Steigerung. Die Katastrophe findet statt, sie wird nicht eingebettet in symphonischen Wohlklang, wie die Berliner Philharmoniker es am Sonntag bei Bruckners Neunter vorexerzierten. Die synkopischen Akzente stören tatsächlich den Takt, die Dissonanzen tun ernsthaft weh, und bei den unvermittelten Wechseln von Dur nach Moll fällt ein harter Schatten über die Szene. Keine Spur von Klangfarbentupfer. Und hinterher schwelgen die Celli in böhmischen Sexten, als sei nichts gewesen. Sie tun so, als ob - ihr Wissen darum macht aus der abgegriffenen Melodie ein paar Takte von rührender Schönheit.
Die Berliner am Sonntag präsentierten ihren Sound, sie legten hin, spulten ab: Das Live-Konzert als Play-Back -Imitation. Die Amsterdamer am Dienstag entwickelten Klänge, sie legten sich ins Zeug, spielten auf, live, ohne Netz und mit Risiko. Bei ihnen bangt man förmlich um den einsamen Ton der Klarinette am Ende des Brahmsschen Adagios; und Beethovens c-moll-Klavierkonzert - auch so ein Klassik -Schlager - verwandeln sie in ein Stück beredte Musik, voller ausgefeilter Gesten und präziser Phrasierungen: eine Art alteriertes Sprechen, nur inniger, intimer, als Worte es könnten.
Mozart zuliebe haben die Amsterdamer vor einigen Jahren mit Harnoncourt zusammengearbeitet, eine Schule, in die man jedes Orchester schicken sollte. Das Concertgebouworkest jedenfalls weiß, daß Konzertieren die Pflicht zur Interpretation miteinschließt - im HiFi-Zeitalter schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr. Interpretation, im Gegensatz zur antiseptischen Präsentation, ist immer etwas, worüber man sich streiten kann: Den einen wird dieser Beethoven zu sportlich sein, die anderen werden bei Brahms den großen Bogen vermissen. Die Klangfetischisten werden sich an den prägnanten Rhythmen stören, und die musikalischen Rhetoriker an der Liebe zum Grazioso. Über Industrieprodukte läßt sich nicht streiten.
Und Ricardo Chailly, der junge Nachfolger des langjährigen Chefdirigenten Haitink, wiegt sich in den Hüften, geht in die Knie, tänzelt und schuftet und stampft mit den Füßen. Vermutlich gilt er als das, was gemeinhin despektierlich guter Kapellmeister genannt wird. Aber einen wie den könnten die Berliner schon brauchen.
chp
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