DIE DEUTSCHEN SOLLTEN NMD-PROTEST NICHT NUR FISCHER ÜBERLASSEN: Friedensbewegung – dringend gesucht
Wo ist die Friedensbewegung? Zum letzten Mal wurde diese Frage während des Kosovokriegs diskutiert. Erstmals nahm die Bundesrepublik an einem Krieg teil, und von der Friedensbewegung war nichts zu sehen. Anscheinend war die Debatte, ob ein Krieg im Kosovo notwendig sei, moralisch zu verwickelt, um die Politindividualisten der Neunzigerjahre zu einer Protestbewegung zu einen.
Mit dem Amtsantritt von Bush junior droht nun der amerikanische Raketenschild NMD. Die Bedenken dagegen wird Joschka Fischer heute in Washington dem US-Vizepräsidenten und dem Außenminister vortragen. Doch bei NMD handelt es sich um ein Rüstungsprojekt, das international so verheerend wirken kann, dass man den Protest nicht nur einem deutschen Minister überlassen sollte – und sei er noch so grün.
Die alte Friedensbewegung ist mit dem Ende des Kalten Krieges sanft entschlafen, und selbst der Kosovokrieg hat keine neue aufgeweckt. Doch trotz dieser wenig ermutigenden Voraussetzungen: Der NMD verfügt über alle Eigenschaften, die Opposition lohnenswert und möglich machen.
1. NMD ist militärisch aggressiv. Anders als von seinen Advokaten gerne suggeriert, hat der Raketenschild nicht nur defensiven Charakter. Er verleiht den USA vielmehr die Aura der Unverwundbarkeit. Auch wenn diese technisch illusorisch bleibt, entfaltet sich eine gefährliche Wirkung. Potenzielle Gegner fühlen sich erst recht provoziert, weil sie einen amerikanischen Griff nach der Weltmacht unterstellen; die Amerikaner selbst werden verleitet zu militärischem Abenteurertum.
Dass NMD einen neuen Rüstungswettlauf lostreten würde, meinen inzwischen selbst so unverdächtige Beobachter wie Richard von Weizsäcker. Anders als die demonstrative Empörung vermuten lässt, sind dabei nicht die Russen die Hauptkonkurrenten: Sie haben ohnehin weit mehr Raketen, als ein Schild jemals abfangen könnte. Das große Rüsten beginnt vielmehr in Asien, wo China seine noch begrenzte Atommacht von den US-Plänen entwertet sieht.
Die ökonomischen Opfer des asiatischen NMD-Wettrüstens wären wohl die Inder und Pakistaner. Weil beide Länder mit China um die Rolle als regionale Atommacht konkurrieren, würden sie kaum tatenlos zusehen, wenn Peking seine Arsenale aufstockt. Auf der Strecke bleibt die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region. Dies hat ein einschlägiges Vorbild: Reagans primitives Raketenschild SDI ist zwar militärisch gescheitert, doch hinterher rühmten seine Anhänger, er habe damit zumindest die Sowjetunion zu Tode gerüstet.
2. Eine Friedensbewegung wäre nicht nur aus diesen sachlichen Gründen nötig: Sie wird politisch gebraucht. Denn von der rot-grünen Regierung ist ernsthafter Widerstand gegen NMD kaum zu erwarten. Außenpolitisch eingebunden und innenpolitisch dem steten Verdacht der CDU ausgesetzt, dem „altlinken Antiamerikanismus“ zu huldigen, fallen ihre Bedenken zaghaft aus – zu zaghaft angesichts der amerikanischen Entschlossenheit, den Raketenschild zu errichten.
Anders als bei den Castor-Transporten wären Proteste nicht gegen Rot-Grün gerichtet. Sie würden vielmehr die deutsche Kritik gegenüber Washington stärken, denn US-Politiker verstehen, wenn deutsche Minister unter dem Druck der öffentlichen Meinung in ihrer Heimat stehen. Eine öffentliche Anti-NMD-Initiative nimmt also die designierte Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth beim Wort, wenn sie beteuert, die Koalition brauche ein Bündnis mit Initiativen im Land.
3. Und schließlich hätte eine Friedensbewegung reale Aussichten, etwas zu bewegen. Die Chancen stehen gut, wenigstens den Größenwahn des Projekts zu therapieren. Die US-Regierung will sich aus politischen, vor allem aber aus finanziellen Gründen mit den Europäern einigen. Die enormen NMD-Kosten, so meinen selbst Befürworter im US- Kongress, müssten auch auf die Bündnispartner verteilt werden. Diese Stimmen werden eher noch zunehmen, sobald die amerikanischen Haushaltsüberschüsse durch Bushs Steuergeschenke verpulvert sind.
Die Vereinigten Staaten wissen, dass sie bei NMD auf ihre Verbündeten angewiesen sind – dies zeigen auch die nicht angeforderten Angebote aus Washington, den Raketenschild auf Europa auszudehnen. Also müssen sich die Deutschen entscheiden, was sie wollen. PATRIK SCHWARZ
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen