DGB-Großdemo gegen die Krise: "Wir sind sozial unruhig"
Hunderttausend geißeln in Berlin die Verursacher der Wirtschafskrise und demonstrieren für ein soziales Europa. Müntefering war da, aber sonst ließen sich kaum Sozialdemokraten blicken.
BERLIN taz | Mit der ersten Reihe ist es offensichtlich nicht getan. SPD-Chef Franz Müntefering höchstpersönlich lief zwar an der Spitze der großen Krisendemo des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und auch die Grünen-Chefs Renate Künast, Cem Özdemir ließen es sich nicht nehmen, ganz vorne Flagge zu zeigen. Und irgendwo ließ sich auch der grüne Spitzenkandidat für Europa, Reinhard Bütikofer, blicken.
Doch ansonsten waren keine Grünen- oder SPD-Fahnen zu sehen. „Was die Sozen laufen mit?“, sagt in der hinteren Reihe Christian Wolf, IG-Metaller aus Heilbronn. Davon habe er nichts mitgekriegt. „Vielleicht auch besser so“, sagt der 34-Jährige. Auf die SPD sei er momentan eh nicht gut zu sprechen.
Rund 100.000 Menschen sind dem Aufruf der Gewerkschaften gefolgt und haben am Samstag in Berlin gegen die derzeitige Krisenpolitik der Bundesregierung und für ein soziales Europa demonstriert. Es ist die bisher größte Demonstration in Deutschland seit Ausbruch der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise.
Zeitgleich demonstrieren mehrere weitere Zehntausend Gewerkschafter in Brüssel, Prag, Brüssel und Madrid. Insgesamt sind nach Angaben des DGB Berlin europaweit 330.000 Menschen am Samstag auf der Straße gewesen. In Berlin sind mit Abstand aber die meisten Menschen zusammengekommen.
Seit Freitagabend um acht Uhr sei er im Bus gewesen, erzählt Christian. 600 Busse hätten die Gewerkschaften bundesweit organisiert, 17 Sonderzüge seien auf den Weg nach Berlin gewesen. „Das ist schon eine gigantische Logistik, über die der DGB verfügt“, findet Christian. Er arbeitet für ein KFZ-Zulieferer. Seit Februar befindet er sich in Kurzarbeit. Viel Zeit, sich über die Ursachen der Krise Gedanken zu machen. Im Süden sei die Stimmung bereits am brodeln, erzählt er.
Mit bloß einer Stunde Verspätung bewegt sich der kilometerlange Demonstrationszug durch den Berliner Stadtteil Moabit in Richtung der Prachtallee "Straße des 17. Juni". Rote und rot-weiße Fahnen der Gewerkschaften Verdi, IG-Metall und IG-BAU sowie der Linkspartei dominieren das Straßenbild.
„Zorn“ steht auf einem Transparent geschrieben. „Kapitalismus = Krise“ auf einem anderen. Dazwischen der besonders lautstarke schwarz-gelbe Jugendblock der IG-Metall: Mit der Offensive „Operation Übernahme“ haben sich die Azubis zusammengetan, bei denen wegen der Krise klar ist, dass sie nach ihrer Ausbildung nicht in den Betrieben bleiben dürfen. „Während die meisten Beschäftigten bisher bloß auf Kurzarbeit gesetzt wurden, sind die Jugendlichen bereits jetzt schon unmittelbar betroffen“, erzählt Christian.
Die Demonstration nähert sich der Siegessäule. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer begrüßt zunächst freundlich die vielen DemonstrantInnen und freut sich sichtlich über die hohe Teilnehmerzahl.
Doch schnell schwenkt er um. Mit wütender Mine geißelt er die „Zocker“ des Finanzmarktes, die die Krise verursacht hätten und übt scharfe Kritik an all denjenigen im politischen Etablissement, „die alle Schleusen für Voodoo-Geldgeschäfte geöffnet und dabei jeden Schutzdamm gegen die grenzenlose Gier eingerissen haben“.
Die Eliten in Politik und Wirtschaft hätten angesichts der Krise „jämmerlich“ versagt, sagt Sommer und fordert eine „eine Umkehr“. Deutschland brauche dringend ein drittes Konjunkturprogramm, dass seinen Namen verdiene und die Binnenkonjunktur ankurbele.
Und dann hebt Sommer die Faust. Es müsse dafür gesorgt werden, dass sich eine solche Krise niemals wiederholen könne. Wenn nicht energisch gehandelt werde gegen die Krise und den Krisenverursacher, „dann wird das Folgen haben für Demokratie und sozialen Frieden“.
Dazu gehöre, dass die Opfer der Krise nicht noch die Kosten der Krise tragen dürften. „Die Verursacher müssen zahlen“, ruft Sommer unter großem Beifall der Demonstranten. Als der DGB-Chef das sagt, bekommt Christian feuchte Augen. „Es ist schon eine schamlose Sauerei, dass sich die Banker nicht einmal für die Misere entschuldigt haben“, meint Christian. „Sie haben die Welt an den Rand des Ruins getrieben und wir dürfen das nun ausbaden.“ Das sei schon ungerecht.
IG-Metall-Chef Berthold Huber erklärt, dass viele Betriebe vor dem Aus stünden, wenn die Politik nicht eingreife. Hunderttausende von Existenzen seien gefährdet. Sein Apell: die Regierungen dürften die Industrie und ihre Arbeitsplätze „nicht absaufen zu lassen“. Huber fordert, dass den Arbeitnehmern auf der Unternehmensebene die gleichen Rechte gegeben werden wie der Kapitalseite.
Nach Abschluss der Kundgebung begibt sich Christian mit seinen Kollegen in Richtung der Busse. Er glaubt, dass die Regierung bis zu den Bundestagswahlen alles daran setzen werde, die Krise zu deckeln. Spannend werde es nach dem 27. September werden, sagt er. Dann würden die Verteilungskämpfe beginnen und es auch mit der Kurzarbeit vorbei sein. „Wir müssen uns auf einen heißen Herbst bereit machen.“
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