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DEBATTEHaiti — ein sterbendes Land

■ Nach fast 200 Jahren Diktatur ist Haiti sozial und ökologisch verwüstet. Ist die einzige Lösung die Rekolonisierung durch die Geberländer?

In der Nacht zum Montag haben der im vergangenen September gestürzte Präsident Haitis, Jean-Bertrand Aristide, und Vertreter des Parlaments ein Abkommen getroffen: Der populäre Präsident, der der Theologie der Befreiung anhängt und bei den ersten freien Wahlen auf Haiti im Dezember 1990 zwei Drittel aller Stimmen erhielt, kehrt zurück, muß aber akzeptieren, daß der Putschführer Raoul Cedras weitere drei Jahre Armeechef bleibt. Noch haben die Militärs ihr Wort nicht gesprochen. Im folgenden Beitrag, der vor der Übereinkunft geschrieben wurde, geht ein Landeskenner der Frage nach, welche Chancen Haiti mit und ohne Aristide hat.

Die Sklaverei in Haiti hat Folgen hinterlassen, die heute noch die Landesentwicklung hemmen: Akzeptanz von Herrschaftsstrukturen („ti nèg pa gin dwa dévan gro nèg“ — ein Armer bekommt gegen einen Reichen nie Recht), Mißachtung der Bauern, die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. 1804 erkämpften die Sklaven ihre Unabhängigkeit. Souverän beuten seitdem Militär und einheimische Elite das Land aus. Die Staatsform seit der Unabhängigkeit ist eine Kleptokratie.

Haiti besetzt die Zeilen der Medien mit aktuellen Nachrichten: Putsche, Diktatur der mit der schmarotzenden Oberschicht verbündeten Militärs und Elend der zu Zehntausenden flüchtenden Boat-People. Dies verstellt den Blick auf die kaum zu lösenden Probleme, die wenig Hoffnung für dieses Land lassen.

Das gravierendste Problem Haitis ist die Erosion. Das früher zu 95 Prozent bewaldete Land verlor seine Forste im 19.Jahrhundert als Reparationszahlungen an die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, im 20.Jahrhundert, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, durch Raubbau für die Kriegswirtschaft der USA. Die wenigen noch vorhandenen Bäume werden jetzt für die Holzkohleproduktion geschlagen. Holzkohle ist für die Bauern mangels ausreichender landwirtschaftlicher Nutzflächen als Cash-crop, für die Stadtbevölkerung zur Nahrungsbereitung notwendig. Die bisherigen Regierungen haben geduldet, daß Holzkohle auch in Fabriken verfeuert und sogar exportiert wird.

Bäume sind für Haiti existentiell wichtig wegen der Bodenverhältnisse: 54 Prozent der Landesfläche haben ein Gefälle von 40 Prozent und mehr. Bereits 1973 waren 45 Prozent der Gesamtfläche Haitis durch Erosion verloren, weitere 45 Prozent waren schwer bedroht, das restliche Land gefährdet. Schätzungen rechnen mit dem Verlust der letzten Ackerkrume für die Jahrtausendwende.

Das zweitwichtigste Problem ist die Bevölkerungsentwicklung. Realistische Schätzungen rechnen mit 4,5 Prozent Zuwachs pro Jahr — mit entsprechendem Druck auf den letzten Boden, mit entsprechender Migration in die ohnehin schon überbevölkerten städtischen Slums und ins Ausland, vor allem die USA und in den frankophonen Teil Kanadas.

Die Emigration verhindert zwar ein noch schnelleres Ansteigen der Bevölkerung, bewirkt aber für Haiti einen unersetzlichen Aderlaß jüngerer, aktiverer, für die Landesentwicklung notwendiger Menschen. Regulierung der Bevölkerungsentwicklung ist bisher von keiner Regierung angepackt worden. Mit einer Million hungernder Menschen mehr läßt sich trefflich eine Erhöhung der Entwicklungshilfe einfordern, die dann noch trefflicher nach Zürich umgeleitet werden kann.

Zudem sind bevölkerungspolitische Maßnahmen bei den Armen nur schwer einzuführen. Kinder sind nach wie vor erhoffte Sozialversicherung und für die Männer Statussymbol. Dazu fehlt den Armen und Ungebildeten das Wissen um die Zusammenhänge zwischen Geschlechtsakt und Zeugung: Kinder sind ein „kado Bon Dieu“, ein Geschenk Gottes.

Haiti leidet unter Korruption und Mißwirtschaft. Der Kolonisierung durch Frankreich ist nahtlos die innere durch Militär und Eliten gefolgt. Korruption und inkarnierter Eigennutz sind durchgehendes Merkmal bis zu den niedersten Funktionsträgern. Die Bereicherungssucht der Oberen wird im Sprichwort „Wenn Du reich werden willst, werde Präsident“ ausgedrückt und auch zur Richtschnur des Verhaltens fast aller Haitianer geworden.

Die vom Duvalier-Clan ins Ausland verschobenen 800 Millionen Dollar entsprechen etwa der Höhe der zu deren Zeit in dieses Land geflossenen Entwicklungshilfe.

Aristides Rückkehr ist kein Allheilmittel

Haiti ist ein Agrarland. 66 Prozent der Erwerbstätigen suchen ihr Auskommen in der Landwirtschaft. Die Böden geben oft wenig her. An Geräten sind nur Hacke und Machete vorhanden. Betreuung durch staatliche Agronomen findet nur rudimentär statt.

Aus eigener Erkenntnis können die Bauern nichts zu ihrer Lageverbesserung unternehmen, weil es an staatlichen Schulen auf dem Lande mangelt. Die Analphabetenrate auf dem Lande beträgt etwa 75 Prozent. Die Regierungen sind an billigen Nahrungsmittelimporten zur Ruhigstellung der Massen in den Slums interessiert, nicht am Wohlergehen der Bauern. Erlösschmälerungen treffen die Bauern durch die Food-for- work-Programme, die außerdem die Ernährungsgewohnheiten so verändern, daß einheimische Produkte weniger nachgefragt werden und im Preis verfallen.

Es gibt weder Grundbuch noch Kataster, so daß die Bauern an Investitionen auf ihrem Land kein Interesse haben, müssen sie doch zu Recht fürchten, daß ein williger Friedensrichter ihr Land einem Großkopfeten zuspricht — oder, ist das Land gepachtet, daß die an den Großgrundbesitzer zu zahlende Pacht wegen ihrer, der Bauern Investitionen steigt.

Hat Haiti überhaupt noch eine Chance? Mit der bisherigen Herrschaftsform Militär und „Elite“ gewiß nicht. Mit einer Rückkehr des verjagten Präsidenten Aristide, des ersten mit überwältigender Mehrheit demokratisch gewählten Präsidenten Haitis, sind die Chancen nur wenig höher; er kann den HaitianerInnen zwar ihre Würde wiedergeben, aber solange das Militär in Kumpanei mit der Großbourgeoisie nichts anderes im Sinne hat, als Pfründe und unberechtigte Privilegien zu perpetuieren und dieses Interesse mit Waffengewalt und Berherrschung der Verwaltung durchsetzt, kann keine Regierung die drängenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder die wirklichen Probleme des Landes lösen. Es fehlt an den materiellen Voraussetzungen, an einer integren Beamtenschaft und einer zur Mitarbeit befähigten Bevölkerung.

Haiti hat eine Chance nur, wenn folgende Maßnahmen sofort durchgeführt werden:

— Die Armee wird nach Zahl und Bewaffnung auf eine dezentral geleitete Polizei und Grenzsicherungstruppe reduziert.

— Die Verwaltung wird bis zum Nachwachsen einer einigermaßen rechtschaffenen Beamtengeneration auf allen Stufen durch Beauftragte der Geberländer mit Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen unterstützt.

— Projekte der Geberländer werden ausschließlich auf die ökologische Rettung des Landes und auf das Erreichen der Zielgruppen abgestellt. Die Herstellung und der Besitz von Holzkohle wird verboten, das Verbot überwacht. Die Bauern, die von der Holzkohleproduktion leben, werden — nicht im Rahmen von Food-for-work, sondern gegen cash — mit der Rekultivierung des Landes beschäftigt. Unversorgte Alte und Kranke aus den ländlichen Gebieten erhalten Transferleistungen aus den Industrienationen bis zum Funktionieren einer landeseigenen Sozialversicherung. Die bestehende gesetzliche Schulpflicht wird verwirklicht. Gleichzeitig wird — heikelstes Thema — die Bevölkerungsregulierung versucht.

Ein solches Projekt ließe sich finanzieren, würde es gewollt und verzichtete man auf die Exportförderungskomponente in der Entwicklungshilfe. Es bliebe dann Aufgabe der Nichtregierungsorganisationen, sich um die einzelnen HaitianerInnen zu kümmern und in der Agonie ihres Landes Überlebenshilfe zu leisten. Jan Eggersglusz

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