: DDR–Opposition fordert Glasnost
■ Hermann Kant soll sich für die Umweltbibliothek einsetzen / Verhaftete frei - Ermittlungen gehen weiter
Aus Ost–Berlin Clara Roth
Die Ost–Berliner Umweltbibliothek der Zionskirche hat den Vorsitzenden des DDR–Schriftstellerverbandes, Herrmann Kant, aufgefordert, in der Bibliothek zu lesen und mit den unabhängigen Öko– und Friedensgruppen zu diskutieren. Kant hatte anläßlich der Razzia in der Umweltbibliothek am Mittwoch gesagt, in der DDR brauche niemand für „den Umweltschutz in die Katakomben zu gehen“. „Ihre Aussage zeigt uns, daß sie schlecht informiert sind“, schreibt die Umweltbibliothek in ihrem Brief, der während einer Protestversammlung in der Ost–Berliner Eliaskirche am Samstag verlesen wurde. Kant möge seinen Einfluß geltend machen und der Umweltbibliothek zu größeren Räumen verhelfen, damit man die Kellerräume der Kirche verlassen könne. Bert Schlegel und Wolfgang Rüddenklau, die seit der Razzia in Haft waren, sind seit Samstag morgen wieder auf freiem Fuß. Fortsetzung Seite 2 Siehe auch Bericht Seite 6 Die Ermittlungsverfahren wegen „Zusammenschluß zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele“ nach § 218 des DDR–Strafgesetzbuches wurden jedoch aufrechterhalten: Rüddenklau und Schlegel, sowie zwei weiteren Mitarbeitern der Umweltbibliothek droht bis zu fünf Jahren Haft. Die unabhängigen Zeitungen „Umweltblätter“ und „Grenzfall“, gegen die sich die staatlichen Aktionen richteten, sollen dennoch weiter erscheinen. Solange der Staat das in der DDR–Verfassung verankerte Recht auf eine freie Presse und Meinungsfreieheit torpediere, müsse dies weiter „aus den Katakomben heraus“ geschehen, erklärte ein Mitherausgeber des „Grenzfall“. Durch das Erscheinen der unabhängigen Blätter wolle man „Glasnost praktizieren“. Wer sich dem entgegestelle sei „verfassungsfeindlich“. Die Haftentlassenen Rüddenklau und Schlegel bestätigten gestern, daß man ihnen bei den Verhören immer wieder vorgehalten habe, sie hätten „gesetzeswidrige Schriften“ gedruckt. Die Vernehmer hätten argumentiert, die Herausgabe der Zeitungen „Grenzfall“ und „Umweltblätter“ stünden im Widerspruch zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“. Am Samstagnachmittag hatte in der Eliaskirche eine Protestversammlung von etwa 600 Menschen gegen die staatlichen Aktionen stattgefunden. Dort wurde bekannt, daß die Sicherheitsbehörden rund 30 bis 40 Mitglieder von Friedens– Umwelts– und Menschenrechtsgruppen in der ganzen DDR am Wochenende Reisen nach Ost–Berlin verboten hatten. Gleichzeitig fand am Wochenende - wie geplant, jedoch in einer anderen Kirche - ein Ökologieseminar verschiedener Umweltschutzgruppen statt. Nach Einschätzung von Mitgliedern der Umweltbibliothek hat vor allem der öffentliche Protest zur Haftentlassung von Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel geführt. Die Ost–Berliner Kirchenleitung habe sich angesichts des staatlichen Überfalls auf dem Kirchengelände „reichlich uneindeutig“ verhalten. Der staatlichen Behörden, so erklärte Wolfgang Rüddenklau, hätten mit dem Rundumschlag gegen die Basisbewegung gezeigt, daß der DDR– Staat „die Machtfrage für die wichtigste Frage hält. Jede freie Regung wird als Aufstand verstanden“.
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