: DAS MEISTERSCHAFTS-DUELL
■ Das SOB spielte gegen Bach und Mahler unentschieden
Sonntag abend: In der Europameisterschaft ist spielfrei. In der Philharmonie tritt das Symphonische Orchester Berlin, kurz: SOB, zu einem Meisterschaftsspiel der Abonnentenklasse N1 an, Gegner sind Bach und Mahler.
Dem Brandenburgischen Konzert Nr. 1 F-Dur stellt sich das SOB in der geforderten kleinen Besetzung. Spielführer Wolf -Dieter Hauschild aus Stuttgart agiert vom Cembalo aus. Als Sturmspitze hat man Rudolf Gähler, Konzertmeister der Bonner Beethovenhalle, gewinnen können. Gähler hat seinen Bogen, einen Rundbogen - „in Anlehnung an die alten gewölbten Bögen mechanisch so vervollkommnet, daß eine notentextgetreue Widergabe z.B. der Bachschen Werke für Solovioline möglich ist“, heißt es im Programmheft - diesen Rundbogen hat Gähler heute offenbar falsch gewachst. Er kommt in den Regionen des ewigen Kolophonium-Schnees nicht recht in Fahrt. Dennoch kann das SOB, vor allem im kühnen Adagio, das sich zu modern anmutenden Dissonanzen versteigt und plötzlich am Abgrund des Schweigens entlang balanciert, für sich punkten und das Spiel gegen Bach für sich entscheiden.
Nach der Pause zum Spiel gegen Gustav Mahlers 5. Sinfonie cis-moll muß das SOB größeres Kaliber auffahren und tritt in verstärkter Besetzung an: sechs Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, vier Schlagzeuger neben den üblichen Streichern und Holzbläsern.
Es ist seltsam: Die gespannte Stimmung eines Meisterschaftsspiels will nicht aufkommen. Woran liegt's? An der schlechten Bezahlung? Die Mitglieder des SOB arbeiten mehr als z.B. die Kollegen des Rundfunk-Sinfonieorchesters, werden aber als C- oder D-Orchester (ich bin nicht ganz sicher) schlechter entlohnt. Oder liegt es an der Struktur des Publikums? Die teuerste Karte kostet 24Mark. Ist hier von vornherein klar, daß bei diesem „Mittelklassen-Abo„ -Publikum nicht philharmonischer Champagner, sondern eben nur Sekt, SOB-Hausmarke, auf den Tisch kommt? Deutlich ist zumindest, daß der letzte Biß, die knisternde Atmosphäre für Höchstleistungen fehlen.
Bester Mann des Spiels ist Spielführer Hauschild von den Stuttgarter Philharmonikern. Ihn hat man 1987 als ständigen Dirigenten des SOB gewinnen können. Hauschild hat es schwer. Er ist nicht zu beneiden. Seine Mannschaft spielt wie gegen einen inneren Widerstand. Widerstand gibt Reibung. Reibung ergibt Hitze. Hauschild schwitzt redlich. Als einziger. Trotzdem will sein Maschinchen nicht so recht am Schnürchen laufen. Nachdem die Hörner für den versemmelten Einsatz zum 2. Scherzo jeweils die gelbe Karte erhalten haben, können sich die Liebhaber von Viscontis „Tod in Venedig“ an dessen Titelsong, dem nachfolgenden Adagietto, auch nicht recht erfreuen.
Es ist eine Musik der unerlösten Sehnsucht. Hier wird Gegenwelt inszeniert. Dort, wo ätherische Leichtigkeit, Sublimation in den gasförmigen Aggregatzustand gefordert ist, klebt das SOB erdenschwer am Boden. Es ist, als sei die Spielfläche mit Leim bestrichen. Mühsam bahnen sich die Streicher einen Weg durch den süßen Schmelz des Mahlerschen Weltschmerz.
Jedoch, was niemand erwartet hat: das SOB stößt - anders als die deutsche Nationalmannschaft diese Woche, mein Tip bis ins Finale vor. Dort drohen auch Spielführer Hauschilds Kräfte und Spielwitz zu verschwinden. In der verzwickten Doppelfuge gehören schon größte Führungsqualitäten dazu, daß das Spiel nicht richtungslos wird, die Mannschaft zu bewegen, in eine Richtung, aufs richtige Tor zu spielen. Nein, zu beneiden ist Spielführer Hauschild nicht. Durch einen fulminanten Sturmlauf gegen Ende reicht es nach regulärer Spielzeit noch zu einem gnädigen Unentschieden. Verlängert wird nicht.
Damit ist die SOB-Saison beendet. Das nächste Meisterschaftsspiel des SOB findet in der neuen Abonnentensaison 88/89 am 11. September statt. Als neue Sturmspitze hat man den stimmgewaltigen Entertainer (Entertenor) Rene Kollo verpflichten können. Gegner sind Strauss und Dvorak.
Wolfgang Böhmer
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