Coronapandemie in Schweden: Der „etwas andere“ Weg
Der damalige Staatsepidemiologe Anders Tegnell setzte bei der Coronapandemie auf Freiwilligkeit statt auf Verbote. Jetzt blickt er in seinem Buch zurück.
Die Frage von Schulschließungen ist ein Punkt, bei dem sich mittlerweile sogar Karl Lauterbach mit Tegnell einig ist. Sie seien ein „Fehler“ gewesen, gestand der deutsche Gesundheitsminister Anfang des Jahres ein. Wobei andere Länder das ja von vornherein „etwas anders“ gemacht hätten. Der nicht nur beim Verzicht auf Schulschließungen für das „etwas anders“ der schwedischen Coronastrategie mitverantwortliche Tegnell hat jetzt ein Buch veröffentlicht. Von dem Buch erhofft er sich, „dass es Lehren für die nächste Pandemie beitragen kann“.
In diesen „Gedanken nach einer Pandemie“ versucht Tegnell, der vor seiner Zeit als Staatsepidemiologe im Auftrag von Weltgesundheitsbehörde (WHO), Ärzte ohne Grenzen und der EU-Kommission in Asien, Afrika und Europa an der Bekämpfung von Epidemien gearbeitet hat, minutiös zu erklären, warum die schwedische Volksgesundheitsbehörde FHM in der jeweiligen Coronaphase welche Maßnahmen getroffen hatte.
Der grundsätzliche Ausgangspunkt sei immer gewesen, das Alltagsleben nur so zu beschränken, wie man es den Menschen über längere Zeit zumuten konnte. Es sei von vornherein klar gewesen, so Tegnell, dass die Pandemie mehrere Jahre andauern würde. Deshalb habe Schweden primär auf Appelle und Freiwilligkeit gesetzt statt auf formelle Vorschriften und Verbote.
Coronamaßnahmen wurden positiv eingeschätzt
Die Strategie hatte Erfolg. Umfragen zeigten, dass die in Schweden getroffenen Coronamaßnahmen von einer dauerhaft stabilen Vier-Fünftel-Mehrheit der Bevölkerung positiv eingeschätzt wurden. Anders als beispielsweise in Frankreich oder Deutschland habe es in Schweden keine ernsthaften Konflikte gegeben, weil die Menschen nicht mit Verboten behelligt worden seien, die sie als unverständlich oder unverhältnismäßig erlebt hätten, meint Tegnell.
„Im Unterschied zu anderen Ländern mussten wir uns in Schweden keine Gedanken wegen eines bedeutenden Impfwiderstands machen. Die Impfskepsis war hier immer sehr schwach, auch angesichts Covid-19“, schreibt Tegnell. 66 Prozent der Bevölkerung ab 18 Jahren hatten drei Impfdosen gegen Covid-19 erhalten, bei den über 70-Jährigen waren es 92 Prozent.
Die Kehrseite des schwedischen Modells war die hohe Sterblichkeit in den Altersheimen zu Beginn der Pandemie. Die schwedische Corona-Kommission kritisierte: „Es wurden zu wenig und zu spät Maßnahmen ergriffen. Weil ein Plan zum Schutz älterer Menschen und anderer Risikogruppen fehlte, hätten frühere und stärkere Anstrengungen unternommen werden müssen, um zu versuchen, die allgemeine Ausbreitung der Infektion zu verlangsamen.“
Tegnell redet die anfängliche Übersterblichkeit in Altersheimen in seinem Buch zwar nicht klein, zeigt sich aber mit der Bilanz insgesamt zufrieden: Denn Schweden gehöre unter Berücksichtigung aller gängigen Berechnungsmethoden zu der Handvoll europäischer Länder, die die Pandemie mit der niedrigsten Sterblichkeitsrate überstanden hätten.
Die gleichen Fehler wie anderswo auch
Nachträglich habe er nicht das Gefühl, dass man zu wenig getan habe, schreibt Tegnell, sondern eher, dass Schweden manchmal über das Ziel hinausgeschossen sei. Beispielsweise habe man auf die durch mangelhafte Vorsorge und fehlende Schutzausrüstung in der Altenpflege verursachte Sterblichkeit mit der Anordnung pauschaler Besuchsverbote reagiert.
Die Älteren hätten wochenlang ihre Angehörigen nicht sehen können. Es sei falsch gewesen, sie an dieser Entscheidung nicht zu beteiligen. Sei man alt und krank, wolle man dieses Risiko vielleicht lieber eingehen, als in der letzten Lebensphase so isoliert zu sein.
In diesem Punkt habe Schweden den gleichen Fehler begangen, der in vielen Ländern den Umgang mit Corona geprägt habe. Bei den Vorsorge- und Schutzmaßnahmen hätten sie nur scheuklappenartig ein mögliches Ansteckungsrisiko im Auge gehabt und dabei den Blick für die Auswirkungen auf das soziale Leben verloren. Sein Appell: Dieser Fehler dürfe sich nicht wiederholen.
Viele Länder drücken sich vor der Aufarbeitung
Tegnell ist besorgt: Es fehle weiterhin an einer wirklichen Aufarbeitung der mit Covid-19 gemachten Erfahrungen. Während es beispielsweise in skandinavischen Ländern teilweise schon mehrere Untersuchungskommissionen gegeben habe, aus deren Berichten man nun versuche Lehren zu ziehen, würden sich viele Länder bislang vor dieser Selbstverständlichkeit drücken.
Wenn PolitikerInnen jetzt erst zugestehen würden, dass Schulschließungen ein Fehler waren, würden sie unterschlagen, dass es entsprechende Studien schon lange gegeben habe. Diese seien ignoriert worden, und viele Länder hätten Kitas und Schulen trotz fehlender wissenschaftlicher Grundlagen geschlossen. Das habe zu einem regelrechten Dominoeffekt geführt, kritisiert Tegnell.
PolitikerInnen in zahlreiche Ländern hätten sich gezwungen gesehen, Maßnahmen anderer Länder zu kopieren, um nicht der Untätigkeit bezichtigt zu werden. Gerade im südlichen Afrika habe das zur Folge gehabt, dass viele Kinder – insbesondere Mädchen – nach dem Ende der Lockdowns ihren Schulbesuch nicht wieder aufgenommen hätten.
Ein Lockdown galt als Handeln
Was für die Schulen gelte, müsse auch für alle übrigen Schutzmaßnahmen wegweisend sein. Die Wissenschaft müsse Vorrang vor den Vermutungen und dem Bauchgefühl der Politik haben. „Ein Lockdown galt als Handeln, die Gesellschaft offen zu halten als passiv“, konstatiert Tegnell. Viel sinnvoller wären selektive und der Situation angepasste Maßnahmen gewesen. Ziehe man Bilanz, so hätte etwa der Umfang von Lockdownmaßnahmen keinen wesentlichen Unterschied beim Pandemieverlauf gemacht.
Bei Gesprächen mit Kollegen in anderen Ländern sei er sich mit diesen einig gewesen, dass eine allgemeine Maskenpflicht nahezu keinen Effekt auf das Infektionsrisiko haben werde, schreibt Tegnell. Als allgemein sichtbares Zeichen, dass man irgendetwas gegen das Ansteckungsrisiko tue, hätte die Politik trotzdem auf Masken nicht verzichten wollen: „Die Frage bekam schnell eine starke politische Sprengkraft.“
Dabei könnten Masken eine falsche Sicherheit vorgaukeln und seien deswegen womöglich sogar kontraproduktiv. Wirklich sinnvoll könne ein Mund- und Nasenschutz erst sein, wenn man ihn dreimal täglich wechselt. Das habe man den Menschen aber nicht gesagt. Ein damit verbundener Maskenverbrauch – jeden Monat rund einhundert pro Person, also mehrere Milliarden monatlich in Ländern wie Deutschland oder Frankreich – wäre, was Produktion, Entsorgung oder Finanzierung angehe, auch kaum zu bewältigen gewesen.
In Schweden ist Tegnells Position zum Tragen von Masken umstritten. Die schwedische Corona-Kommission gibt Tegnell und der Gesundheitsbehörde zwar recht, dass anders als sonst in der medizinischen Forschung Laborexperimente zum Mund- und Nasenschutz nicht wirklich aussagekräftig sind, sondern vor allem Erfahrungen aus der Realität. Aber da habe es damals nur die Bangladesch-Studie gegeben. Bangladesch und Schweden seien aber nicht vergleichbar.
Der Alleingang Schwedens gegen die Empfehlungen der WHO wird auch im Hinblick auf das Vorsichtsprinzip bei Aufenthalten in Innenräumen und öffentlichen Verkehrsmitteln infrage gestellt. Für Tegnells Position, dass Mundschutz eine falsche Sicherheit vorgaukeln könne, gebe es ebenfalls keine belastbare Studie. Das Fazit der Kommission lautet: „Das Tragen eines Mundschutzes in Innenräumen und öffentlichen Verkehrsmitteln als Maßnahme zur Infektionskontrolle hätte nicht einfach abgelehnt werden dürfen.“
Westlichen Länder haben sich egoistisch verhalten
Auf internationaler Ebene hätten sich beim Umgang mit der Pandemie noch größere Mängel gezeigt. Bei der Frage von Schutzkleidung und -materialien wie bei der Versorgung mit Impfstoffen habe das Recht des Stärkeren gegolten, kritisiert er. Untereinander und erst recht im Verhältnis zu Dritte-Welt-Ländern hätten sich die westlichen Länder egoistisch verhalten.
Sie hätten die Preise hochgetrieben und Masken und Impfdosen gehortet, nur um später einen Großteil vernichten zu müssen: „Erst wollte man jeweils den eigenen Bedarf decken, bevor man bereit war, anderen zu helfen. Wir müssen viel besser werden bei der globalen Zusammenarbeit im Gesundheitssektor und Strukturen schaffen, um die Ressourcen vernünftig zu verteilen.“ Denn eines sei gewiss: Die nächste Pandemie komme bestimmt.
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