piwik no script img

Coronamaßnahmen in BerlinTrotz ist keine Anti-Coronaregel

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Der Regierende beklagt sich über Wirte, die gegen die Sperrstunde juristisch vorgehen. Das offenbart ein fragwürdiges Verständnis des Rechtsstaats.

Wie groß ist die Coronagefahr in Kneipen? Das Verwaltungsgericht sagt: überschaubar Foto: dpa

W elche Regeln gelten für Regierungen in Pandemiezeiten? Diese Frage betrifft das Verhältnis zwischen Exekutive und Parlamenten, wobei letztere zuletzt deutlich mehr Mitsprache bei Coronaverordnungen eingefordert haben. Es geht aber auch um die Wertschätzung der Regierenden für die Justiz, und daran scheint es doch ein wenig zu mangeln.

Am Freitag vergangener Woche hatte das Verwaltungsgericht die vom Senat beschlossene Sperrstunde für Kneipen gekippt. Geklagt hatten elf Wirte, die nun vorerst auch wieder nach 23 Uhr öffnen können. Für weitere zwölf Wirte erging an diesem Freitag die gleiche Eil­entscheidung.

Das Gericht bezieht sich dabei auf vom Robert Koch-Institut veröffentlichte Daten, wonach Gaststätten bisher keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen gehabt hätten. Der Senat legte gegen die Entscheidung Beschwerde ein. So weit, so korrekt.

Doch schon am Samstag nach der ersten Entscheidung verletzte SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci die Trennung zwischen beiden Gewalten. Die klagenden Kneipenbetreiber wüssten wohl nicht, was auf dem Spiel steht: „Lockdown mit schweren wirtschaftlichen Folgen! Um dies zu verhindern, tragen auch sie eine Mitverantwortung!“, twitterte sie.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Am Dienstag legte der Regierende Bürgermeister nach: „Es ist kein Erfolg, sich ein oder zwei Stunden mehr Freiheit zu erstreiten, wohl wissend, was das nach sich zieht“, sagte Michael Müller nach der Senatssitzung, in der verschärfte Auflagen für Treffen von Privatpersonen und das Tragen von Masken auf zehn Straßen beschlossen wurden. Und auch, die Sperrstunde „gerichtsfest“ zu machen.

Es offenbart ein fragwürdiges Verständnis von der Arbeit als PolitikerIn, wenn man erst eine Regelung abliefert, die offenbar juristisch nicht haltbar ist, und dann noch jene dafür verantwortlich macht, die sich die in einem Rechtsstaat bestehend Möglichkeit herausnehmen, genau dies feststellen zu lassen.

Die Politik erhebt sich über das Recht und die Wissenschaft

So erhebt sich die Politik moralisch über die Justiz und die BürgerInnen – und zudem über die Erkenntnisse der Wissenschaft, auf die sich die Politik in der Pandemie sonst gerne stützt. Sauertöpfisches Motto: Wenn ihr unsere Vorschriften nicht akzeptiert, dann kriegt ihr halt den Lockdown. Um Verständnis für Anticoronaregelungen zu schaffen, ist dies der falsche Weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Zitat: "Das offenbart ein fragwürdiges Verständnis des Rechtsstaats."

    Genauso ist es. Es gibt auch vereinzelt Wirte/Bedienungen, die keine Bock auf Maske haben, obwohl sie hunderte Gäste am Tag bewirten. Spricht man sie darauf an, kommt so ein wirres Larifari.



    Natürlich gehe ich da nicht mehr hin!

  • Warum sollen nicht auch Politiker aus der Regierung ihre (vom Gerichtsurteil abweichende) Meinung kundtun dürfen? Solange sie nicht versuchen, die Gerichtsurteile zu ignorieren und einfach Fakten zu schaffen, entsteht dem Rechtsstaat kein Schaden.

    In der momentanen Situation ist jeder Bürger aufgerufen, Vernunft walten zu lassen. Natürlich kann man theoretisch (und sogar praktisch) ständig an die Grenzen dessen gehen, was gerade noch erlaubt ist. Aber ist es vernünftig? Vielmehr sollte jeder, der es es sich wirtschaftlich irgendwie leisten kann, freiwillig auf möglichst viele Kontake verzichten, um dem Virus weniger Möglichkeiten zu bieten, sich zu verbreiten. Das wäre ein Stück Solidarität mit denen, die es sich nicht oder weniger leisten können.

  • Einzelentscheidungen von Gerichten - egal worum es geht - schließen nicht aus, dass Bürger/innen oder Politiker/innen die Situation anders einschätzen.



    Mir fallen, neben den aktuellen Entscheidungen, X - Gerichtsbeschlüsse zu anderen Themenbereichen ein, die mich als Normalbürger empören - auch wenn die Entscheidungen mit juristischer Logik zu begründen sind.

  • Es ist eine Frage der Perspektive.

    Vor Gericht landen Einzelfälle. Eine recht beschränkte Perspektive.

    Regierende haben eine Gesamtverantwortung. Sie müssen zum Wohle der Allgemeinheit deutliche Einschränkungen durchsetzen. Das die bisherigen Maßnahmen bei weitem nicht mehr reichen, ist mehr als offensichtlich.

    Das Gericht bezieht sich darauf, dass nicht nachgewiesen werden konnte, dass von Gaststätten viele Infektionen ausgehen. Weder konnte das Ausbleiben von Infektionen nachgewiesen werden (zu viele Infektionsquellen werden gar nicht erkannt), noch berücksichtigt die Entscheidung, dass die Sperrstunde (hoffentlich) das Verhalten der Leute grundsätzlich beeinflusst.



    Nochmal: die Wissenschaft hat bestimmt NICHT BEWIESEN, dass Sperrstunden DAS FALSCHE MITTEL sind. Das kann sie bei der aktuellen Versuchsanordnung gar nicht.

    Ich kann jede:n Regierende:n verstehen, die/der hier allmählich verzweifelt. Natürlich wird jede Einschränkung von Einzelnen beanstandet. Wenn die Konsequenz ist, dass man die Hälfte der beschlossenen Maßnahmen wieder zurücknehmen muss, dann sehe ich keinen Trotz am Werk, wenn Lockdown als letze, einzige Option übrigbleibt.

    Ich seh hier ne Menge Sankt-Florian-Prinzip am wirken.

    Wer das konfliktfreie, unumstrittene Mittel hat, die Pandemie zu stoppen, werfe den ersten Stein.

    • 0G
      06360 (Profil gelöscht)
      @Stephan Herrmann:

      Zustimmung.

  • "Zunehmend korrigiert die Judikative "von oben herab" getroffene Corona-Entscheidungen zu gunsten der BürgerInnen"

    Oder zu Gunsten von SARS-CoV-2; das wird man im Nachhinein sehen.

    Was ist eigentlich mit "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit"?



    Was ist mit dem erheblichen Anteil an nachweislichen Infektionen "im Freundeskreis" und den "nicht nachvollziehbaren Infektionsketten" i.V.m. so oft beklagten nachlässigen Führung von Gästelisten? Wer in der Wissenschaft solche Schlüsselevidenz in solchen Fragestellungen von erheblichem öffentlichen Interesse ignorieren würde, hat ratzfatz eine Ethikkommission am Arsch. Insofern ist "So erhebt sich die Politik moralisch [...] über die Erkenntnisse der Wissenschaft" eine gewagte Aussage. "Die Wissenschaft" tendiert nämlich aktuell eher so zu "Lockdown/Shutdown mit allem Drum und Dran, für mindestens 2 Wochen, und zwar am besten gestern, aber allerspätestens kommende Woche". Aber das sind halt alles Leute, die von Berufs wegen zwischen "Infektionszahlen von heute" und "Neudiagnosen von heute" unterscheiden können.

    All das wird man aber 2021 diskutieren können. Den Rest dieses Jahres wird erst mal Drops gelutscht. Ohne Ausspucken, auch wenn die Stacheln noch so sehr im Hals kratzen. Man kann sich zu Weihnachten eine Zeitmaschine wünschen, um die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren - aber ich habe einen starken Verdacht, dass man stattdessen einen Restaurantgutschein o.ä. unterm Tannenbaum finden wird.

  • Teile der Herrschenden emfinden also die rechtstaatliche Demokratie als lästig. Die BürgerInnen sollen - im Über- und Unterordnungsverhältnis - ihre zugewiesene Rolle gefälligst annehmen und Entscheidungen der Legislative und/ oder Exekutive nicht in Frage stellen. Zunehmend korrigiert die Judikative "von oben herab" getroffene Corona-Entscheidungen zu gunsten der BürgerInnen; auch hieran wird deutlich, dass wir in einer lebendigen Demokratie leben und die Judikative dieses Spiel (z. B. mit Grundrechten) nicht mitmacht.