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Corona und Demonstrationen 2020Ein protestreiches Jahr

Trotz der Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen war die Zahl der Demonstrationen 2020 so hoch wie nie. FFF dagegen hatte es schwer.

Black Lives Matter-Demonstration im Juni 2020 auf dem Alexanderplatz in Berlin Foto: Pierre Adenis

Berlin taz | Sie haben noch nicht aufgegeben, die Co­ro­nal­eug­ne­r*in­nen von der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand. „Vieles deutet darauf hin, dass in den kommenden drei Monaten ein demokratischer Frühling einsetzen muss, wenn wir das Grundgesetz, unsere individuelle wie kollektive Souveränität und damit unser Leben in Freiheit und sozialem Ausgleich noch wiederherstellen können wollen“, hieß es kürzlich in einem Rundschreiben.

Eine ganz ähnliche Tonalität aus Welt­untergangsraunen und Durchhalteparolen schlug der Verein um den ehemaligen Journalisten Anselm Lenz schon Ende März vergangenen Jahres an, als er zur ersten – unangemeldeten – Hygienedemo am Rosa-Luxemburg-Platz mobilisierte.

Damals war das Demonstrationsgeschehen in der Stadt quasi zum Erliegen gekommen. Corona war seit zwei Wochen mit voller Wucht eingeschlagen; Versammlungen jeder Art, auch nach Artikel 8 des Grundgesetzes geschützte politische Zusammenkünfte, waren per Coronaverordnung fast vollständig untersagt – die vitale Protestszenerie der Stadt eingefroren. Zuerst durchbrochen wurde die Stille von jenen, die den Virus für eine Lüge halten, für ein Instrument der Mächtigen, um demokratische Grundrechte zu schleifen.

Was vor der Volksbühne amateurhaft ohne Redebeiträge und dem Verteilen von Grundgesetzen begann, wuchs in den kommenden Wochen und Monaten mit Unterstützung der verschwörungsideologischen und rechtsextremen Szene immer weiter an. Zum Höhepunkt im Sommer kamen etwa 20.000 Co­ro­nal­eug­ne­r*in­nen in Mitte zusammen, Ende des Monats gar 40.000 zu einer zunächst verbotenen, dann aber gerichtlich erlaubten Demonstration der Querdenken-Bewegung. Die größten Demonstrationen des Jahres wurden ausgerechnet von jenen veranstaltet, die noch heute so tun, als seien die Coronamaßnahmen nur ein Vorwand, um ihnen ihre ihre Rechte rauben.

Ein Jahr Corona in Berlin

Das Virus: Natürlich hat man sich hier bereits davor mit der neuen Erkrankung beschäftigt, am 1. März 2020 aber wurde auch in Berlin der erste Fall einer Infektion mit dem Coronavirus bestätigt. Der erste Lockdown folgte schnell: Am 17. März wurden die Schulen und Clubs geschlossen, am 23. März folgten fast alle Geschäfte.

In Serie: Seit einem Jahr hält uns ein Virus, das einem längst erschreckend vertraut erscheint, in Atem. Was macht das mit Berlin und seinen BewohnerInnen? In einer loser Folge wollen wir der Frage mit den ersten Bilanzen nachgehen, nach dem Blick auf die soziale Distanz, die Gewaltfrage, den Kultur- und Schulbetrieb folgt hier die Protestlage.

Mehr Demos denn je

Für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit war das erste Jahr unter Coronabedingungen ein außergewöhnliches – und dennoch keines, das die Anzahl der Proteste einschränkte. Die Jahresbilanz 2020 der Versammlungsbehörde zeigt das: 5.857 Demonstrationen und Kundgebungen wurden in Berlin gezählt, 254 mehr als Jahr 2019, und damit so viele wie nie zuvor. Dazu kommen 1.837 geplante Veranstaltungen, die letztlich nicht abgehalten, teilweise verboten wurden.

Allein 222 Proteste sind in der Polizeidatenbank unter den Stichworten Querdenken und Corona verzeichnet. Auch bundesweit gibt es Hinweise darauf, dass es trotz aller Beschränkungen nicht zu einer Abnahme des Demonstrationsgeschehens gekommen ist. So gab es 2020 mindestens 147 extrem rechte Aufmärsche und Kundgebungen, wohingegen es 2019 noch 124 waren.

Anselm Lenz, Verschwörerdemonstrant der ersten Stunde Foto: Christian Mang

Daniel Mullis, Bewegungsforscher am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sagt, dass sich im Frühjahr das Recht auf Demonstrieren erst wieder „erstritten“ werden musste. Dass dies gelang, sei keineswegs einzig rechten und verschwörungsideologischen Kreisen zuzuschreiben, sondern auch klassischen linken sozialen Bewegungen. Diese seien mit dem ersten Lockdown zunächst „in große Stille“ verfallen, hätten dann aber in ihren Protestformen die Infektionsgefahr „ernst genommen“, wie Mullis sagt. Schon eine Woche nach der erste Hygienedemo griffen auch sie die Versammlungsverbote sowohl praktisch als auch juristisch an.

Auch in der Linken wird Kritik am Staat lauter

Eine gesellschaftliche Debatte darüber, was an Protest möglich sein muss, entzündete sich Anfang April anhand der Kampagne für die in Lagern an den europäischen Außengrenzen festgehaltenen Flüchtlinge. In Berlin stellten damals Ak­ti­vis­t*in­nen von Leave no one behind Schuhe vor dem Brandenburger Tor ab, symbolisch für die Geflüchteten sowie für die Protestteilnehmer*innen, die nicht zusammen kommen durften. Trotz der sicheren Protestform war die Polizei eingeschritten und hatte De­mons­tran­t*in­nen wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz angezeigt. Nun wurde auch in der Linken die Kritik an einem autoritär agierenden Staat lauter.

Mitte April hatte das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen klargemacht, dass die pauschale Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit inakzeptabel ist. Berlin hatte bis dato von der in der Coronaverordnung formulierten Ausnahmeregelung, kleine Proteste unter Auflagen erlauben zu können, nahezu keinen Gebrauch gemacht. Während andere Bundesländer ihre pauschalen Verbote bereits kassierten, tat Berlin zunächst nichts, um Versammlungen wieder zu ermöglichen.

Am ersten Mai unterliefen Linke erstmals massenhaft die zu diesem Zeitpunkt geltende Beschränkung auf 20 Teil­neh­me­r*in­nen und versammelten sich am Abend zu Tausenden zum Revolutionären 1. Mai in Kreuzberg. Mullis nennt im Rückblick die Kundgebung von Black Lives Matter Anfang Juni auf dem Alexanderplatz als den „Punkt, an dem die Demonstrationsverbote obsolet wurden“. Zwar folgte nach jenem Tag noch eine Debatte über die Coronagefahr angesichts der dicht gedrängten Massen, aber pauschale Verbote und Teilnehmerbeschränkungen waren ab da an vom Tisch.

Dennoch habe sich gezeigt, so Mullis, dass es „eine Bereitschaft innerhalb des Staates gibt, demokratische Grundrechte zu beschneiden, wo sie besser nicht beschnitten werden“. Es sei ein Erfolg sozialer Bewegungen, dass ihr „Protest nicht unterbunden werden konnte“.

Klimademos ausgebremst

Für viele zivilgesellschaftliche Akteure bleibe es, so Mullis, dennoch eine „Herausforderung“, sich zu organisieren und die Frage zu beantworten, wie man zusammenkommt. „Wie generiert man Solidarität in einer Zeit, die auf Distanzhalten ausgerichtet ist?“, fragt Mullis. Viele hätten versucht, ihre Aktionen ins Digitale zu verlegen oder Online- und Offline-Protest zu verschränken. Fridays for Future legte Ende April etwa 10.000 Protestschilder und Banner vor dem Reichstag ab und veranstalte eine mehrstündige Online-Demonstration, die bis zu 20.000 Zu­schaue­r*in­nen gleichzeitig erreichte. Skeptisch ist Mullis aber hinsichtlich der Durchschlagskraft der Proteste in Coronazeiten.

So hätte „alles, was nicht mit Pandemie direkt zu tun hat, Schwierigkeiten, einen direkten Resonanzraum zu finden“. Bewegungen etwa im Klimabereich oder zu Wohnungspolitik seien „ausgebremst“ worden. So konnte Fridays for Future nicht an die Erfolge des Vorjahres anschließen, auch seien etwa digitale Proteste am Housing Action Day im März kaum wahrgenommen worden. Gesellschaftlich wichtiger geworden seien hingegen Themen, die sich dem „umfassenden Bereich der Sorge“ widmen, sei es bei Betreuungsarbeiten oder im Gesundheitssektor.

Im Hinblick auf die Bundestagswahl rechnet Mullis mit verstärkten Auseinandersetzung über die Fragen, wer für die Krise bezahlt und wie sie für einen sozialökologischen Wandel genutzt werden könnte.

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