„Corona in der Welt“ – Kirgistan: Die Rache Allahs
In Kirgistan wachsen die Spannungen zwischen gemäßigten und radikalen Muslimen. Das zeigt sich einmal mehr in Zeiten der Pandemie.
Die Ironie ist, dass das Virus in Kirgistan zuerst bei drei Männern nachgewiesen wurde. Sie waren nach Saudi-Arabien gereist, wo sie die heiligen Stätten besucht hatten. Nach ihrer Rückkehr hatten sie in ihrem Dorf ein Fest gefeiert. Wütende Kommentare „weltlicher“ Bürger ließen nicht lange auf sich warten.
In Kirgistan bekennen sich 90 Prozent der Bevölkerung zum Islam. In den vergangenen Jahren ist in der Gesellschaft eine Spaltung zwischen denjenigen zu beobachten, die sich als wahrhaft Gläubige bezeichnen, und denjenigen, die sich zum gemäßigten Lager zählen. Gerade Letztere fanden immer einen Grund, Diskussionen in den Medien loszutreten. Nun auch noch das Coronavirus.
Timur Toktonaliev lebt in Bischkek und arbeitet für das Institute for War and Peace Reporting (IWPR). Im Jahr 2016 war er Teilnehmer eines Panter Workshops.
Zwar startete die Staatsmacht sofort eine Informationskampagne. Schon Ende Januar wurden die Grenzen zu China geschlossen, Ankommende aus dem Ausland überprüft und Personen in Quarantäne geschickt. Doch die Bevölkerung nahm diese Maßnahmen nicht ernst.
Vorräte gehen zu Ende
„Im Fernsehen haben wir doch alles gesehen – was in China los war und auch die Warnungen unserer Regierung. Wer hätte ahnen können, dass Ende März das Elend mit dem Coronavirus auch in Kirgistan ein solches Ausmaß annehmen würde?“, sagt die zweifache Mutter Asel Dschusupbekova. „Geb’s Gott, dass bald alles vorüber ist. Wir sitzen ohne Arbeit zu Hause und die Vorräte gehen zu Ende.“
Dessen ungeachtet machten in Kirgistan via Internet Witze und Ratschläge die Runde, die bezeichnend für die Staaten der einstigen Sowjetunion sind. „Wie schützen wir uns vor dem Virus? Wir reiben die Hände mit Wodka ein und kippen 100 Gramm hinter die Binde. Schon gibt es keine chinesische Infektion mehr.“
Noch hat die Coronapandemie den Globus fest im Griff. Doch allen Abschottungsversuchen zum Trotz wächst die Welt dieser Tage auch zusammen. Gerade jetzt ist es deswegen besonders wichtig, den eigenen Horizont zu erweitern.
Für die taz berichten nicht nur unsere Auslandskorrespondent*innen aus vielen verschiedenen Ländern. Auch ein weit verzweigtes Netz junger Journalist*innen, die seit 2011 an internationalen Workshops der taz Panter Stiftung teilgenommen haben, blickt für uns und unsere Leser*innen auf die Welt und verfolgt unser gemeinsames Ziel: die Pressefreiheit weltweit zu stärken.
Mehr als 500 Medienmacher*innen haben bislang an 37 internationalen Workshops mitgewirkt. Einige der Alumnis berichten in der Reihe „Corona in der Welt“ über den Einfluss von Covid-19 auf ihre Länder und Mitmenschen. Sie schreiben über die Situation in Honduras, Kambodscha, Kirgistan, Malaysia, Moldawien, Myanmar, Niger, Nigeria und der Ukraine. Sie ermöglichen uns allen einen neuen Blick.
Die Autor*innen sind – anders als hoffentlich das Virus – nicht zu stoppen. Das Gleiche gilt auch für die taz Panter Stiftung. Wir sind entschlossen, unsere Arbeit fortzusetzen, sobald es die Situation wieder zulässt. Dafür braucht es Kraft und Zuversicht. Und nicht zuletzt auch Sie!
Das Gesundheitsministerium hatte bereits Anfang des Jahres Empfehlungen abgegeben: sorgfältig die Hände waschen, auf Hygiene achten, Masken tragen und Gebäude mit Wacholder (Artscha) beräuchern. Wacholder nimmt einen besonderen Platz im Leben des kirgisischen Volkes ein: nach ihm sind Parks, Naturschutzgebiete und Ortschaften benannt.
Von Alters her glauben die Menschen, dass Wachholderrauch Gebäude von allen Übeln des Geistes reinigt und Mikroben tötet. Ab Februar waren viele Büros von Wacholdergeruch erfüllt. Diskussionen über Corona endeten immer mit dem Ausspruch: „Beschütze uns Gott!“
Stiere geopfert
An Gott wandte sich auch der Mufti Kirgistans, Maksatbek Toktomuschev. Im Hof der größten Moschee opferte er zwei Stiere. „Bloß nicht wegen Corona in Panik verfallen“, sagte er vor der Zeremonie. „Unsere Vorfahren haben in solchen Fällen gemäß der Tradition und Scharia eine Zeremonie mit Wacholder und den Allmächtigen um Schutz vor Krankheiten, Tod und anderen Nöten ersucht. Möge der Allmächtige unserem Volk Wohlergehen, Einheit und Frieden bringen.“ Leider hatte dieser Appell nicht das gewünschte Ergebnis. Am 4. April gab es in Kirgistan fast 150 Infizierte und einen Toten.
Auf der Halbinsel Krim gibt es, offiziellen Angaben zufolge, bislang 32 Erkrankte. 13 Menschen sind wieder gesund, Tote sind nicht zu beklagen. In Kirgistan sind 430 Coronafälle registriert, fünf Menschen verstorben und 71 wieder genesen. Die Bilanz für die Republik Moldau: 1.712 Infizierte, davon 17 in der autonomen Region Gagausien. 35 Menschen sind in Zusammenhang mit Covid-19 gestorben, 107 genesen.(Stand: 14 April)
Die Staatsmacht verfügte im ganzen Land Quarantäne, in einigen Städten und Regionen wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen dürfen vor allem in der Hauptstadt Bischkek nur noch mit einem besonderen Dokument auf die Straße gehen, auf dem außer persönlichen Angaben auch vermerkt sein muss, was sie einkaufen wollen.
Alle Verwaltungsgebäude sind geschlossen, Kinder und Studenten lernen zu Hause. Zur Arbeit dürfen nur Ärzte, Staatsbedienstete und Menschen gehen, die einen Passierschein haben. Die sonst so belebten Straßen Bischkeks sind ungewöhnlich leer.
Tausende sind in unbezahltem Urlaub oder ganz ohne Arbeit und Mittel, um ihre Existenz zu sichern. Die Regierung hat angekündigt, dass diejenigen, die beim Sozialministerium registriert sind, mit Lebensmitteln versorgt werden.
Millionenkredit vom IWF
Der Staatsmacht ist klar, dass die Maßnahmen der Wirtschaft kolossale Verluste zufügen werden. Denn anders als die an Öl und Gas reichen Nachbarn war Kirgistan gezwungen, bei internationalen Finanzorganisationen um Hilfe zu bitten. Der IWF gewährte einen Kredit in Höhe von 120 Millionen Dollar.
Auch in Kirgistan ist der Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus eine neue Erfahrung. Alle fahren auf Sicht. Doch als sich die Nachricht über die ersten Genesenen verbreitete, keimte Hoffnung auf. Unter ihnen waren auch zwei der Rückkehrer aus Saudi-Arabien.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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