Corona-Finanzpaket der EU: Der Gipfel der Uneinigkeit
Der neue Deal sollte die EU aus der schlimmsten Wirtschaftskrise retten. Doch es war ein Feilschen um Milliarden und demokratische Werte.
Das Scheitern lag nahe. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel zweifelte bis zuletzt an einer Einigung. Doch gelang nach vier langen und quälenden Verhandlungstagen schließlich der Durchbruch beim Marathongipfel der Europäischen Union in Brüssel.
Zuerst einigten sich die 27 Staats- und Regierungschefs unter Leitung von Ratspräsident Charles Michel auf einen Kompromiss bei den Coronahilfen: Die Zuschüsse wurden auf Druck der „sparsamen vier“ (Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden) abgesenkt, die Kredite erhöht.
Dann schwächten die Staats- und Regierungschefs die geplante Rechtsstaatsklausel ab und verteilten noch einige millionenschwere Geldgeschenke. Sogar Deutschland, das seit dem 1. Juli für sechs Monate den EU-Vorsitz führt, bekam im Morgengrauen noch fix 1,3 Milliarden Extrahilfen für ostdeutsche Regionen und die ländliche Entwicklung zugesprochen.
Am Ende schienen alle zufrieden, gerade weil jeder Staat einen Erfolg für sein Land vorweisen kann. Frankreichs Staatschefs Emmanuel Macron sprach sogar von einem „historischen Tag für Europa“. „Wir sind uns bewusst, dass dies ein historischer Moment in Europa ist“, sekundierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach dem Gipfel.
Der neue Deal soll die EU aus der schlimmsten Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung retten, in die sie infolge der Coronapandemie rutschte. Gleichzeitig soll er die Finanzierung des „European Green Deal“ für eine klimafreundliche Wirtschaft sichern.
Doch über den Klimaschutz wurde in den vier Gipfeltagen kaum diskutiert, und ausgerechnet die Hilfen für Gesundheit und Forschung wurden zusammengestrichen. Und auch sonst hat die späte Einigung einige Macken und Lücken, die noch zu Problemen im Europaparlament führen könnten.
Der Coronahilfsfonds: Schulden für den Wiederaufbau
Es ist ein Novum in der EU-Geschichte: Zum ersten Mal nimmt Brüssel in großem Stil Schulden auf, um einen Coronahilfsfonds zu finanzieren. Der neue Sonderfonds mit dem wohlklingenden Titel „Next Generation EU“ soll bis zu 750 Milliarden Euro umfassen und bis 2026 laufen.
Allerdings wird es nun nur noch 390 Milliarden Euro an (nicht rückzahlbaren) Zuschüssen geben – und nicht 500 Milliarden, wie Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron gefordert hatten. Dies haben die „sparsamen vier“ durchgeboxt. Am Gesamtvolumen haben sie aber nicht gerüttelt; 360 Milliarden werden als Kredite vergeben.
Unklar ist, wie viel Geld am Ende in den Krisenländern wie Italien oder Spanien ankommt. Denn der Gipfel hat den Verteilerschlüssel geändert, über 30 Prozent der Mittel wird nun erst 2022 entschieden. Die EU-Kommission will das Geld mit der Gießkanne verteilen; selbst von Corona kaum betroffene Länder wie Polen sollen profitieren.
Vorher müssen sie allerdings ein Reformprogramm vorlegen, das den Plänen der Brüsseler Behörde entspricht. Der „Wiederaufbau“ und die „Resilienz“, also Widerstandskraft, werden ebenso gefördert wie Klimaschutz und Digitalisierung. Wenn ein EU-Land Zweifel an den Reformen hat, kann es Einspruch einlegen und die Zahlung stoppen. Auch diese „Notbremse“ haben die Nordländer durchgesetzt.
Unklar ist, wie die Schulden zurückgezahlt werden. Der Gipfel hat zwar eine Plastikabgabe beschlossen, die 2021 kommen soll. Die Digitalsteuer und eine sogenannte CO2-Grenzsteuer sollen 2023 folgen. Doch das dürfte kaum reichen, um die Schulden zu bedienen, zumal die Rückzahlung bereits 2026 oder noch früher beginnen soll.
Das EU-Budget: Sparen bei Gesundheit und Klima
Die EU plant weit in die Zukunft, trotz Corona. So wurde jetzt schon ein neues Gemeinschaftsbudget für 2021 bis 2027 beschlossen. Es fällt mit insgesamt 1.074 Milliarden Euro niedriger aus als in den letzten sieben Jahren. Auch hier haben sich die „sparsamen vier“ durchgesetzt.
Die Nettozahler aus dem Norden konnten auch erreichen, dass ihre Beitragsrabatte erhöht werden. Eigentlich sollten die Nachlässe, die noch aus der Zeit des berühmt-berüchtigten Briten-Rabatts stammen, nach dem Austritt Großbritanniens wegfallen. So hatte es der frühere deutsche EU-Budgetkommissar Günther Oettinger vorgeschlagen.
Franziska Brantner, Europa-Sprecherin der Grünen im Bundestag
Doch das passte Angela Merkel nicht, denn nach dem Brexit und den wegfallenden Zahlungen aus London steigt der deutsche EU-Beitrag stark an. Nun behält Deutschland den größten Rabatt in Höhe von 3,67 Milliarden Euro pro Jahr. Österreich profitiert von einer saftigen Erhöhung. Der Nachlass wurde von 237 Millionen auf 565 Millionen Euro angehoben – eine Steigerung um 138 Prozent.
Die Rabatte gehen zulasten anderer Nettozahler wie Frankreich, Italien oder Luxemburg. Gerecht ist das nicht, zumal die Nachlässe auch auf den Schuldendienst gewährt werden dürften. Für Frust sorgen auch die beschlossenen Kürzungen bei Gesundheit und Forschung. Sie widersprechen dem Ziel, die EU-Ausgaben „moderner“ zu machen.
Auch der „Just Transition Fund“ für einen sozial verträglichen Kohleausstieg wurde zusammengestrichen. Damit schwächt der EU-Gipfel den versprochenen „European Green Deal“. Gipfelchef Charles Michel sagte zwar, die Mittel für den Klimaschutz im neuen EU-Budget würden auf bis zu 30 Prozent wachsen. Dies dürfte jedoch kaum ausreichen, um die Ziele aus dem Pariser Klimaabkommen zu erreichen.
„Alle Projekte, die einen europäischen Mehrwert haben, wurden gekürzt“, klagt die Europa-Sprecherin der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner. Damit hätten Merkel & Co dem europäischen Gedanken einen Bärendienst erwiesen.
Der Rechtsstaat: Laxe Regeln für Orban & Co
Von dem Versprechen, die Zahlung von Finanzhilfen künftig zwingend an Demokratie und Rechtsstaat zu binden, ist nicht viel übrig geblieben. Vor allem Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat sich lautstark dagegen gewehrt.
Nach unbestätigten Berichten soll Merkel ihm am Rande des EU-Gipfels weit entgegengekommen sein. Orbán behauptet sogar, die Kanzlerin habe ein baldiges Ende des laufenden Rechts-staatsverfahrens gegen Ungarn angekündigt.
Merkel streitet das ab. Doch der Gipfelbeschluss zum Rechtsstaat fällt äußerst vage aus. Die EU-Kommission wurde beauftragt, einen neuen „Schutzmechanismus“ auszuarbeiten – das kann dauern. Über mögliche Strafen bei Verstößen sollen dann die EU-Staaten entscheiden – mit qualifizierter Mehrheit.
Wenn Ungarn und Polen wie bisher zusammenhalten und noch einige „Freunde“ mobilisieren, dürfte es nie zu einer Kürzung von EU-Hilfen wegen Korruption und Machtmissbrauch kommen. Die EU sei vor Ungarn und Polen „eingeknickt“, sagte die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD).
Die Europaabgeordneten hatten den Schutz des Rechtsstaats zu einem zentralen Prüfstein für das neue EU-Budget erklärt. Sie müssen dem Finanzpaket noch zustimmen; eine erste Debatte ist am Donnerstag geplant. Ob sie am Ende den Mut haben, Nein zu sagen, bleibt abzuwarten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind