Corona-Ausbruch in Schlachthof: Osteuropäer als Sündenböcke
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet kassiert Kritik für eine Äußerung über osteuropäische Beschäftigte, die sich mit Corona infiziert haben.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil bezeichnete es als „unsouverän, dass Herr Laschet als Erstes die Bulgaren und die Rumänen, also die Arbeiter, die herkommen, um hier wirklich unter widrigen Umständen in der Fleischindustrie zu arbeiten, dass er die angreift“. Er erwarte daher eine Entschuldigung, sagte Klingbeil am Donnerstag bei bild.de. Die Zahl der positiv getesteten Mitarbeiter des Schlachthofs stieg auf 730.
Nach der Kritik teilte Laschet schließlich mit: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich.“ Man müsse davon ausgehen, dass die Arbeitsbedingungen und die Unterbringung der Menschen zur rasanten Verbreitung des Virus unter den Mitarbeitern des Schlachtbetriebs beigetragen hätten.
Einer Expertin für Infektionskrankheiten zufolge ist es „extrem unwahrscheinlich“, dass Hunderte von Coronafällen auf Familienbesuche am Wochenende zuvor zurückgehen. „Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf Tage, sodass ein Wochenendbesuch kaum so eine große Anzahl an Personen erklären kann“, sagte Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf dem Science Media Center. „Die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen scheinen mit den aktuell notwendigen Hygienemaßnahmen nicht gut vereinbar zu sein.“
Körperliche Anstrengung führt zu hoher Virusausscheidung
Wenn zahlreiche Menschen bei der Arbeit und in ihren Unterkünften nah beisammen sind, könne sich das Virus auch durch nur wenige zuerst Infizierte schnell verbreiten. „Ein weiterer Faktor ist eventuell die körperliche Anstrengung während der Arbeit, die zu höherer Virusausscheidung führt, sowie die kalte und feuchte Luft in den Schlachtanlagen. Feuchte Hände, Handschuhe, Schürzen und Kleidung zum Beispiel beim Hantieren mit Fleischprodukten könnten zusätzlich die Übertragung durch Schmierinfektionen begünstigen“, so die Wissenschaftlerin.
„Wenn sie da 10, 12, 14, 16 Stunden am Tag arbeiten, schaffen sie es nicht, ständig Mundschutz zu tragen und die Abstände einzuhalten“, sagte Freddy Adjan, Vize-Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), der taz. Zudem sei es in der Branche die Regel, dass die meist über Subunternehmer beschäftigten Arbeiter „in fürchterlichen Wohnungen“ mit beispielsweise zwölf Betten und nur einer Toilette und einem Bad „eingepfercht“ seien.
Die Schlachthöfe hätten sich ihrer Verantwortung dafür entledigt, indem sie die Subunternehmer per Werkvertrag bezahlten. Wenn ein Tönnies-Vorarbeiter den Werkvertragsmitarbeitern Anweisungen gebe, „dann ist es kein Gewerk mehr, sondern eine illegale Arbeitnehmerüberlassung“, so Adjan. „Tönnies darf sich da wegen der Werkvertragskonstruktion gar nicht einmischen.“
Billigfleischland Deutschland
Zu Forderungen, Werkverträge beim Schlachten und Zerlegen schon früher als bisher von der Bundesregierung geplant zu verbieten, sagte der Gewerkschafter: „Mir ist es lieber, es kommt am 1. Januar 2021, aber nicht von der CDU/CSU-Fraktion so geschleift, dass es überhaupt nichts hilft.“ Der aktuelle Zeitplan für die Gesetzesänderung sei schon ehrgeizig.
Die Industrie lehnt das Werkvertragsverbot ab, weil sonst wegen der höheren Kosten Betriebe ins Ausland abwanderten oder Fleisch zu teuer wäre. „Das ist Humbug“, sagte Adjan. „Diese Unternehmen haben schon Firmen im europäischen Ausland. Aber sie wissen, dass sie in Deutschland noch billiger produzieren als irgendwo anders.“ Dänemark und Schweden hätten ihre Fleischindustrie an die deutsche Billigkonkurrenz verloren. Zudem würden die Tiere hier gemästet. „Die müsste man auch nach Rumänien bringen. Das wird nicht funktionieren.“
Wenn die Schlachthöfe ihre Arbeiter direkt mit normalen Tarifen beschäftigten, müssten die Verbraucher nur 20 Cent pro Kilogramm Schweinefleisch mehr bezahlen, rechnete Adjan vor.
Unterdessen protestierten Dutzende Lehrer und Eltern mit ihren Kindern vor dem privaten Tönnies-Anwesen, einem Werk des Schlachtbetriebs sowie einer Kirche in Rheda-Wiedenbrück. Protestteilnehmerin Melanie Beforth sagte: „Bildung ist offenbar nicht so wichtig, wie ein Stück Fleisch zu essen.“ Die Familien seien an der Grenze ihrer Leistungskapazität. Nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies sind Schulen und Kindergärten im Kreis Gütersloh geschlossen worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden