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Comic über FlüchtlingsrettungsschiffMit Bleistiften gegen die Ignoranz

Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer waren im Sommer an Bord der „MS Aquarius“ auf dem Mittelmeer. Ihre Erlebnisse verarbeiten sie in einer Graphic Novel.

Borstels und Eickmeyers düstere Zeichnungen der Geflüchteten beschönigen nichts Foto: Peter Eickmeyer

OSNABRÜCK taz | Fall Nummer 662 beginnt an Tag elf um sieben Uhr. Als der Alarm eingeht, steht das ehemalige Fischereischutzboot „MS Aquarius“ östlich von Tripolis in Warteposition. Umgerüstet durch die deutsche Hilfsorganisation SOS Méditerranée, ist das Schiff seit Anfang 2016 zwischen Tunesien, Libyen und Süditalien im Einsatz – zur Flüchtlingsbergung.

Kurz nach Mittag sind 132 Gerettete an Bord. 125 werden in der Nacht gerettet. In den frühen Morgenstunden weitere 395, übernommen von einer italienischen Fregatte. Insgesamt werden an diesem 23. Juni 5.000 Menschen geborgen.

Zur Crew der „MS Aquarius“ gehören nicht nur Nautiker, Techniker, Mediziner und Köche. Seit Mitte Juni sind auch Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer aus Neuenkirchen bei Melle an Bord. Drei Wochen wird das Künstlerehepaar bleiben, Stoff sammeln für seine Graphic Novel „Liebe deinen Nächsten“.

Sie beobachten nicht nur

Gaby von Borstel führt Interviews und textet. Peter Eickmeyer zeichnet. Beide filmen und fotografieren. Und sie beobachten nicht nur. Sie teilen Hilfsgüter zu, helfen an der Essensausgabe. Praktische Migrantenarbeit sind sie gewohnt – in der „Flüchtlingsinitiative Neuenkirchen“ geben sie Deutschunterricht.

Wort- und Bildkunst, um Bewusstsein zu schaffen für das Drama im Mittelmeer? Die Idee entstand 2015, durch einen Vortrag von Méditerranée-Gründer und -Kapitän Klaus Vogel in Osnabrück. Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer riss Vogel mit. Sie wollen aktive Hilfe leisten. „Wir sind keine Ärzte, können kein Schiff steuern. Aber wir können etwas anderes: die Öffentlichkeit sensibilisieren“, sagt Eickmeyer.

Also gehen sie drei Wochen an Bord, schlafen in einer Etagenbett-Kabine und sind Teil der multinationalen Crew der „MS Aquarius“. Die holt Hoffnungssuchende aus Ländern wie Mali, Eritrea und dem Südsudan aus überfüllten, leckgeschlagenen Schlauchbooten. Es ist eine völlig andere Welt als das Zuhause von Eickmeyer und von Borstel in einem Ort mit 5.000 Einwohnern – so viele Menschen, wie am 23. Juni gerettet werden.

Mit der Sprechblasenästhetik von Goofy oder Asterix hat das nichts zu tun

Ein Stück Rettungsweste

Wieder zu Hause, umgeben von Skizzenblöcken, einem halben Dutzend Staffeleien, Gläsern voller Pinsel, erinnert sich Eickmeyer an die Reaktionen seiner Umwelt: „Respekt, haben viele gesagt – toll, was ihr da macht.“ Aber dann hätten sie immer gleich ein Aber hinterhergeschoben: „Eine solche Hilfsaktion ist doch keine Lösung! Da müssen die Regierungen ran, die Politiker, global!“ Eickmeyer zuckt die Achseln. „Klar, müssen sie. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass das jemals geschieht?“

Deshalb habe er sich gefragt, was er selbst tun könne, im Kleinen. „Sonst kannst du dich irgendwann nicht mehr im Spiegel ansehen“, ist er überzeugt.

Ein überlebensgroßes Flüchtlingsporträt in Acryl dominiert den Raum, rechts unten ist ein Stück Rettungsweste eingearbeitet. Es ist für eine Wanderausstellung gedacht, die über die Arbeit von SOS Méditerranée und „Liebe deinen Nächsten“ informiert.

Die beiden Künstler wollen das Thema Flüchtlinge „mit den Mitteln der Kunst auf eine kulturelle Ebene heben“, sagt von Borstel. „Wer sind denn die Verursacher dieser Fluchtbewegungen?“, fragt Eickmeyer und antwortet dann selbst: „Wir. Und dann bauen wir uns eine Festung und lassen niemanden rein.“ Für ihn ist das purer Zynismus. „Waren dürfen sich frei bewegen, weltweit, aber Menschen nicht?“, sagt er.

Stilistischer Grenzgang

Ihre Graphic Novel folgt, reportagehaft, ihrem persönlichen Erleben. Die „MS Aquarius“ ist vom Beiboot aus zu sehen, die erleichterten Blicke der Geretteten, die Anspannung, Erfülltheit und Müdigkeit der Helfer. Dramatik teilt sich mit und Emotion – mahnend, feinfühlig, appellativ.

Noch liegen Monate des Gestaltens vor dem Paar – Ende März 2017 soll das Buch fertig sein, zur Leipziger Buchmesse. Doch schon jetzt steht fest: Eickmeyer und von Borstel wagen einen stilistischen Grenzgang. Gegenständlichkeit paart sich mit Abstraktion, umfängliche Textfelder stehen auf doppelseitigen Hintergrundpanoramen, montiert zu Clustern kleinformatiger Detailmotive.

Und nach einem Drittel des Buchs kommt ein technischer Cut, der zugleich eine inhaltliche Zäsur ist: Die Bleistift- und Tuschezeichnungen, in denen Eickmeyer die Zeit vor dem ersten Rettungseinsatz zeigt, koloriert er am Rechner. Der Effekt: ziemlich clean. Bei allen Motiven ab dem ersten Flüchtlingskontakt trägt er die Farbe von Hand auf – rau wirkt das, düsterer. „Ich denke, ich mache den Cut mitten in einem Doppelseitenbild“, sagt er. Mit der Sprechblasenästhetik von Goofy und Asterix hat das nichts zu tun.

Stoff für mehrere Bücher

Graphic Novels boomen derzeit. Aber das gab, sagt von Borstel, nicht den Ausschlag: „Comic ist eben unser Ausdrucksmittel.“ Es ist bereits die zweite Graphic Novel der beiden. 2014 erschien „Im Westen nichts Neues“, eine Adaption des Anti-Kriegs-Klassikers von Erich Maria Remarque.

Und Remarque ist zugleich Namensgeber von „Liebe deinen Nächsten“ – sein erster Emigrationsroman heißt so. Mehr noch: 1939, in seiner englischen Fassung, trägt er den Titel „Flotsam“ – Strandgut. „Das kann auch Ballast bedeuten, Abschaum“, sagt Eickmeyer. Und zur Nächstenliebe passt auch die Bibel: „Es lässt sich als Appell an das christlich orientierte Europa lesen, seine Asylpolitik menschlich zu gestalten.“

Die beiden setzten bewusst nicht auf Fotos von der Tragödie: „Jeder von uns ist jeden Tag mit einer solchen Überfülle von Fotos und Filmen konfrontiert, dass man schon gar nicht mehr hinschaut“, sagt von Borstel. Wer sie erzählen hört über ihre drei Wochen an Bord, ahnt: Auch für zwei Bücher gäbe es Stoff genug. Oder für drei. Das hat schon ihr Blog gezeigt, während der Fahrt.

Kollision der Welten

Da waren zum Beispiel die Kreuzfahrtschiffe. „Wir fahren in den Hafen ein, wie eine Arche Noah, vom Vorschiff bis zum Heck alles voller Flüchtlinge in grauen Decken“, sagt von Borstel. „Und da sind dann diese riesigen Kästen mit ihren Spaßrutschen und übergewichtigen Joggern, und Cocktailschlürfer starren im Bikini zu uns runter.“ Kollision der Welten.

Nicht nur der Einsatz selbst war eine Herausforderung – auch die Rückkehr in den Alltag. „Es fühlt sich unwirklich an. Du gehst ins Büro, und ständig fragst du dich: Was tust du hier überhaupt?“, sagt Eickmeyer. „Am liebsten wären wir sofort wieder an Bord gegangen.“ Sie überlegen, 2017 erneut für drei Wochen nach Italien zu fliegen. Von Borstel freut sich darauf: „Diesmal wollen wir ins Search-and-Rescue-Team.“

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