Citizen Science-Konferenz in Berlin: Coming-out der Bürgerforschung

In Berlin trafen sich Bürgerforscher zur europaweiten Konferenz. Eine halbe Million Menschen machen mit bei Citizen-Science-Projekten.

Mitten in Berlin, ein Fuchs auf der Straße

Interessierte Bürger liefern Beobachtungsdaten über das Vorkommen von Füchsen in der Stadt Foto: dpa

Schummrig ist’s im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Ein Ort, wo gut munkeln ist, wo kreative Ideen ausgekocht werden. Die passende Location für die Premiere der ersten europäischen Konferenz für Bürgerwissenschaften am vergangenen Wochenende. Anlass war das Jahrestreffen des Vereins ECSA (European Citizen Science Association, auf deutsch: Verein der europäischen Bürgerwissenschaften), der schon seit drei Jahren besteht, sich aber bisher nur zu förmlichen Mitgliederversammlungen traf. In Berlin wurde das Meeting zu einem richtigen Festival ausgerollt, das den über den Kontinent verstreuten Wissenschaftsfreunden die Gelegenheit bot, sich gegenseitig kennenzulernen: in Vorträgen, Workshops, Posterpräsentationen und bei Feten.

„Citizen Science ist jetzt eine weltweite Bewegung“, stellte Katrin Vohland vom Berliner Museum für Naturkunde und Vizevorsitzende der ECSA zur Eröffnung unter Begrüßung von Gästen auch aus den USA und Australien fest. Kennzeichen der Bewegung sei der Trend zur Ausbreitung nach außen und der Entwicklung einer Selbstidentität nach innen.

Nicht unwichtig ein weiterer Aspekt, vor dem kritischen Zustand der Europäischen Union: „Citizen Science ist auch ein Ausdruck für die Identität und den Geist von Europa“, sagte Vohland. In der Tat war die Grenzenlosigkeit, die Un-Nationalität, die dominante Stimmung des Berliner Treffens – sozusagen ein Schengenraum für Kreativität und Findergeist. Die Organisatoren hatten mit 200 Teilnehmern gerechnet; dass mit 350 Bürgerforschern fast doppelt so viele kamen, zeigt das große Interesse und auch den Veränderungsdruck, der sich an die Wissenschaft richtet.

Nach Muki Haklay vom University College in London, einem der Vordenker der Bewegung („Citizen Science and Policy: A European Perspective“, 2015), ist es in den letzten zehn Jahren zu einem „schnellen Wandel im Verhältnis von Bürgern und öffentlichen wie privaten Forschungseinrichtungen“ gekommen. Seit 2007 haben sich nach Haklays Überblick weit über eine Million Menschen an Citizen-Science-Projekten beteiligt: von der Klassifizierung von Galaxienfotos und der Beobachtung von Fledermäusen über die Abschrift von Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Tiererkennung in der Serengeti.

Internationales Aufsehen hat der deutsche „Mückenatlas“ am Brandenburger Zentrum für Agrarlandschaftsforschung gefunden, bei dem in einem Jahr 5.000 Hobbyforscher über 17.000 Mücken einschickten. Effekt: eine tropische Mückenart, und dort Infektionsauslöser, wurde erstmals in Deutschland entdeckt – Folge des Klimawandels.

Füchse in der Großstadt

Ein Projekt zur Beobachtung von Füchsen in der Großstadt, das der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) mit dem Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin durchführt, stieß auf enorme Resonanz. „Über 1.000 Zuschauer schickten uns mehr als 100.000 Digitalfotos von Füchsen“, berichtete RBB-Wissenschaftsredakteurin Ilona Mahrenbach auf der Konferenz. Jetzt gehen die IZW-Forscher an die Auswertung der Daten, um das geänderte Verhalten von Wildtieren in der Stadt zu erklären.

In Washington lädt Barack Obama die Citizen Scientists bereits zu Präsentationen ins Weiße Haus ein

Dabei gehört das Feld nicht allein den naturwissenschaftlichen Themen. Die Kulturforscherin Andrea Sieber von der Uni Klagenfurt in Österreich stellte das Projekt „Brotzeit“ vor, bei dem Schüler ihre Großeltern im Lesachtal zum Handwerk des Brotbackens interviewen. Sieber: „Als Wissenschaftler interessiert uns der Zusammenhang zwischen der intergenerationellen Weitergabe von Erfahrungswissen und regionaler Identität.“

Das Dresdener Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung macht seine Forschung zum Landschaftswandel ebenfalls mit Bürgerforschern. „Wir bitten die Bevölkerung“, erklärte Projektleiter Wolfgang Wende, „uns alte Landschaftsbilder aus ihren Fotoalben zu schicken und dieselbe Stelle nach Möglichkeit heute noch einmal zu fotografieren.“ Der optische Vergleich zeigt unter anderem die großen Veränderungen im Agrarbereich.

Förmlicher Gastgeber der Konferenz war das deutsche Gewiss-Projekt „Bürger schaffen Wissen, Wissen schafft Bürger“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig und des Museums für Naturkunde Berlin. Dieses Projekt hatte in den letzten zwei Jahren mit einer Förderung aus dem Bundesforschungsministerium die Zusammenführung der deutschen Szene betrieben und vor Kurzem das „Grünbuch“ für eine Citizen-Science-Strategie 2020 (pdf-Datei) vorgelegt.

65 deutsche Citizen-Science-Projekte

Ein Vertreter des Ministeriums teilte mit, dass in vier Wochen ein nationales Förderprogramm zur Unterstützung von Projekten der Bürgerforschung gestartet werde. Die Rede ist von mehreren Millionen Euro. Nach Schätzungen des Gewiss-Konsortiums, das auf seiner Internetplattform 65 deutsche Citizen-Science-Projekte versammelt hat, sind insgesamt rund 500.000 Wissenschaftsinteressierte in dieser Szene aktiv.

Spürbar war, dass hier eine neue Bewegung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft entsteht. Viele Jahre waren die Wissenschaftsjournalisten die Platzhirsche an dieser Stelle – die inzwischen so weit reduziert sind, dass sie zur ECSA-Konferenz gar nicht mehr auftauchten, um darüber zu berichten. Dann kamen die Wissenschaftskommunikatoren, die via PR dem breiten Publikum ein „Public Understanding of Science and Humanities“ (PUSH) anzutragen versuchten, was die meisten heute als Anstrengung mit nur begrenztem Erfolg bewerten.

Nun tritt unter dem Label „Citizen Science“ ein neuer und doch alter Akteur aus den Reihen der Zivilgesellschaft auf den Plan: Bürger, wissenschaftliche Laien, die gleichwohl an Wissenschaft und wissenschaftlicher Methodik des Erkenntnisgewinns so sehr interessiert sind, dass sie es nicht nur bei passiver Bildungsaufnahme belassen, sondern aktiv am Forschungsprozess mitwirken wollen.

Leitlinien und Zeitschrift

Die angestrebte „Professionalisierung“ der Bürgerforschung in Europa hat Tempo. Zehn ECSA-Leitlinien (pdf-Datei) wurden formuliert, eben ist eine neue wissenschaftliche Zeitschrift erschienen. „Dennoch muss man feststellen, dass wir gegenüber den USA noch eine Entwicklungsregion sind“, räumt IZW-Direktor Heribert Hofer ein.

In Washington lädt Barack Obama die Citizen Scientists bereits zu Präsentationen ins Weiße Haus ein. Gleichwohl ist es für ECSA-Gründungsmitglied Hofer ein wichtiger Schritt, dass sich die Bürgerforscher in Europa auf einer übernationalen Ebene organisieren: „Wir dürfen in Europa keine 28 unterschiedlichen Wege gehen.“

Auffallend war im Kesselhaus die Absenz der Politik. Außer einem Vertreter der EU-Kommission, der für eine Beteiligung an der Brüsseler Open-Science-Initiative warb, hatte kein Politiker den Termin auf dem Kalender. „Obwohl wir uns sehr darum bemüht hatten“, merkt der alte und neue ECSA-Vorsitzende Johannes Vogel an, Direktor des Berliner Naturkundemuseums. Die Politikferne muss aber nicht ein Manko, sondern kann auch ein Freiraum für die Bürgerforschung sein. Auch dies ein Unterschied zum etablierten Wissenschaftssystem.

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