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Christliche Orte in Marzahn-HellersdorfKein gottloser Bezirk

Der Bezirk im Osten Berlins gilt nicht als Hotspot christlichen Lebens. Dabei laufen die migrantischen Freikirchen traditionellen Kirchen den Rang ab.

Mehr als 100 christliche Orte gibt es in Marzahn-Hellersdorf, wie das Gelände der Russisch-Orthodoxen-Kirche Foto: Britta Pedersen/picture alliance

Berlin taz | Eine Straße und ein S-Bahnhof erinnern in Marzahn an den Gefängnisseelsorger Harald Poelchau und seine Frau Dorothee. Mehr als 1.000 zum Tode verurteilte Menschen hat Poelchau in der NS-Zeit in Berliner Haftanstalten begleitet und mit ihnen ihre letzten Stunden verbracht. Mit ihnen gebetet oder gelesen und sich von den gefesselten Insassen Briefe an ihre Hinterbliebenen diktieren lassen, die er aus dem Gefängnis schmuggeln konnte. Gemeinsam mit seiner Frau und einem großen Freundeskreis hat er zudem viele Menschen unter Lebensgefahr versteckt und ihnen damit das Leben gerettet. Ihre Tätigkeit flog nicht auf, sodass die Poel­chaus die NS-Zeit überlebten.

Seit 2017 erinnert auch eine Gedenkstele neben einem Supermarkt an das Wirken der Poelchaus. Angebracht wurde sie auf Initiative eines Pfarrers im Ruhestand. Laut dem Verein Zusammenleben, einem Förderverein der Evangelischen Kirche Marzahn-Nord, sind Straße, S-Bahnhof und Stele nur einige von vielen christlichen Orten im Bezirk Marzahn-Hellersdorf.

Wenn man auf das christliche Leben in Berlin blickt, kommt einem nicht unbedingt zuerst Marzahn-Hellersdorf in den Sinn. Vielmehr scheint es eher ein gottloser Bezirk zu sein. Von Anfang an haben in den erst am Ende der DDR-Zeit errichteten Plattenbauten nur wenige Christen gewohnt. Dazu laufen seit Jahren den Kirchen die Mitglieder davon.

Der Verein Zusammenleben wollte genau wissen, wo in dem Bezirk christliche Orte sind. Und fand neben sechs evangelischen und einer katholischen Kirchengemeinde sowie einigen Kitas insgesamt 108 Orte. Seit fünf Jahren suchen 30 „Pilger“, wie sie sich nennen, in der warmen Jahreszeit einmal pro Woche einen dieser Orte auf, sprechen mit den Akteuren vor Ort oder nehmen an Gottesdiensten teil.

Christliches Leben immer öfter in Freikirchen

Herausgekommen ist dabei eine Sammlung von Porträts dieser Orte im Internet und in Buchform. Zusammenfassen lassen sich die Ergebnisse wie folgt: Während die katholische und die evangelische Kirche einen Mitgliederschwund aufweisen, findet christliches Leben immer öfter in Freikirchen statt. Hierher kommen auch viele Familien mit Kindern, während die großen Kirchen eher ältere Mitglieder haben. Zudem findet soziales Engagement verstärkt in lokalen Initiativen statt.

Nicht bei allen christlichen Gemeinschaften ist die Trennschärfe zur Sekte gegeben

An insgesamt rund 50 Orten treffen sich wöchentlich Menschen zu Gottesdiensten in christlichen Gemeinschaften, so Katharina Dang, eine Pfarrerin im Ruhestand, die das Projekt leitet. In ehemaligen Kitagebäuden, in Gewerbegebieten, in Privatwohnungen oder auch als Gäste in evangelischen Kirchen. Nicht bei allen diesen Gruppen ist die Trennschärfe zur Sekte gegeben – bei den allermeisten schon, meint zumindest die Pfarrerin.

Allein elf dieser Gemeinden wurden von russlanddeutschen Zuwanderern gegründet. Es sind Orte, an denen auch gemeinsam gekocht und Sport getrieben und somit der Vereinsamung entgegengewirkt wird. Weitere Gemeinden gibt es von Zuwanderern aus Rumänien, Nigeria sowie von russischsprachigen Roma.

Bei der nigerianischen Gemeinde handelt es sich um einen Ableger der Dunamis-Gemeinde aus dem westafrikanischen Land, die das größte Kirchengebäude der Welt mit 100.000 Plätzen gebaut hat. Von dem gigantischen Gottesdienst gibt es einmal im Monat eine Direktübertragung in einen ehemaligen Laden der eher wenig schicken Einkaufspassage Plaza Marzahn.

„Die Menschen haben ihre Religion mitgebracht“

„In Berlin gibt es so viele Sorten von Christen wie in keiner anderen deutschen Stadt“, sagt Hans-Joachim Ditz vom katholischen Erzbistum Berlin bei der Präsentation der Sammlung in Marzahn. „Das ist nicht etwa das Ergebnis von Konzepten aus Politik oder Kirche, sondern von Migration. Die Menschen haben ihre Religion mitgebracht.“ Aber nicht nur das. Auch andere Freikirchen wie die Neuapostolische Kirche in Kaulsdorf sprechen Menschen an. „Menschen suchen Gemeinschaft“, sagt Projektleiterin Katharina Dang. „Die finden sie in diesen Gemeinden.“

Freikirchen stehen für eine tiefe Frömmigkeit und schotten sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ab. Man bringt sie mit strengen Verhaltens- und Kleiderordnungen in Verbindung, mit eher unangenehmen Missionierungen, der Ablehnung homosexueller Partnerschaften oder mit Rassismus. Nicht ohne Grund: Russlanddeutsche vom rechten Rand wie der frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Waldemar Herdt aus Niedersachsen gelten als Netzwerker der christlichen Rechten mit ausgezeichneten Kontakten zum Kreml.

Und in Marzahn-Hellersdorf? Von Homofeindlichkeit haben Katharina Dang und ihre „Pilgergruppe“ nichts gemerkt. Das fällt bei einmaligen Besuchen indes auch nicht sofort ins Auge. Einige wenige Kirchen wie die Zeugen Jehovas und die Mormonen gehören allerdings zu Glaubensgemeinschaften, die alles andere als liberale Ansichten haben. Zu den meisten migrantischen Kirchen gibt es dabei große Unterschiede und keine belastbaren Daten. Aber das Bild von der Illiberalität der Freikirchen decke nur einen kleinen Teil der Realität ab, meint Dang: „In Sachen Diversität sind uns einige Freikirchen sogar einen Schritt voraus.“

So habe sie bei verschiedenen Freikirchen Frauen und Männer aus afrikanischen Staaten, Korea und Indien gesehen, die in mehrheitlich deutschen Gemeinden leitende Aufgaben wahrnehmen würden. In ihrer eigenen evangelischen Kirchengemeinde gelinge es nicht immer, die Russlanddeutschen für den Gemeindekirchenrat zu gewinnen, sagt Dang.

Bei ihrer Tour seien sie zudem auf großes soziales Engagement von Christen gestoßen, etwa bei den Ausgabestellen von „Laib und Seele“ in einer evangelischen und einer freikirchlichen Gemeinde, bei der Migrationssozialberatung der Caritas oder in Wohngruppen für Menschen mit Behinderung. Ein Engagement, ohne das auch im für gottlos gehaltenen Marzahn-Hellersdorf das Zusammenleben nicht klappen würde.

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