„Jeder Schritt hat eine Geschichte“
Spätestens seit Beyoncés Hit „Already“ liegen afrikanische Tanzschritte im Trend. Der Tänzer und Choreograf Isaac Kyere hat ein Videolexikon dieser Bewegungen erstellt
Von Judith Rieping
(Interview) und André Wunstorf (Fotos)
taz am wochenende: Herr Kyere, Sie haben vor Kurzem das „African Dance Dictionary“ veröffentlicht, eine Onlineplattform, in dem Sie fast wie in einem „Wörterbuch“ Tanzschritte per Video erklären. Kann man Tanzen lernen wie eine Sprache?
Isaac Kyere: Auf jeden Fall. Nach meiner persönlichen Überzeugung ist Tanzen wie Sprechen. Durch Tanzen kann man sich ausdrücken, Tanzen kann eine Stimme geben, eine visuelle Stimme. Um sich bestmöglich auszudrücken, viele Menschen emotional zu erreichen, muss man sich wie mit jeder Sprache erst mal ausführlich mit ihr befassen. Auch im Tanz muss man eine gewisse Grammatik entwickeln, also einen eigenen „Flow“ finden. Außerdem Vokabeln, sprich einzelne Schritte lernen und überlegen, wie man sie betont und wie man Akzente setzt. Genau wie beim Lernen einer Sprache beginnt man am besten mit den Vokabeln und schafft sich ein brauchbares Wörterbuch mit Übersetzungen oder Erklärungen an. Deswegen war „African Dance Dictionary“ für mich der passendste Begriff.
Wenn Sie von „afrikanischem Tanz“ sprechen, wovon sprechen Sie genau?
Gemeint sind im „African Dance Dictionary“ die vier großen Stile des modernen afrikanischen Tanzes, die man zu aktueller Popmusik tanzt. Das sind Afrobeats, Ndombolo, Afro House und Coupé Decalé. Man kann natürlich nie die Fülle an traditionellen Tänzen abbilden, es geht hier ja immerhin um einen Kontinent. Trotzdem haben sich Begriffe wie „Afrodance“ oder „Afrofusion“ etabliert. Gemeint sind damit aber vor allem diese vier Stile vorrangig aus Ghana, Nigeria, dem Kongo, Angola und der Elfenbeinküste. Im „African Dance Dictionary“ beginne ich ein Kapitel immer mit der Geschichte des Stils, denn die modernen Tänze bedienen sich vieler traditioneller Bewegungen. Erst danach zeige ich alles, von Grundschritten hin zu den trendigsten Moves. Am Ende versuche ich allen auch den „Freestyle“ nahezulegen, also frei die Schritte zusammenzuknüpfen, um dann wirklich anzufangen, im Tanz zu „sprechen“.
Und wie haben Sie selbst angefangen, diese „Sprache zu sprechen“?
Beim Tanzen geht es viel ums Nachahmen. Ich bin in Ghana geboren und habe als Kind gesehen, wie meine Onkel und Tanten auf Familienfeiern traditionell ghanaisch getanzt haben, und sie dabei schon immer nachgeahmt. Wirklich befasst habe ich mich erst später mit modernem afrikanischen Tanz. Eigentlich war ich als HipHop-Tänzer mit meiner Crew, der „M.I.K Family“ aus Berlin, bekannt, konnte aber nicht zu lange bei einem Stil bleiben. Dann habe ich angefangen, intensiv zu Afromusic zu trainieren. Ich habe Afro-Tänzer kennengelernt, die gerade frisch nach Deutschland kamen, mit ihnen trainiert und erste Auftritte gemacht. Das ging rasant schnell, und ich durfte für die größten afrikanischen Musiker das Konzert mit einer Show eröffnen. Darunter waren Wizkid, einer der größten Afrobeats-Musiker, oder DJ Arafat, unser früheres Idol und eine Legende im Coupé Decalé.
Wie haben Sie aus Europa heraus Inspiration gefunden und die Tänze lernen können?
Es war für mich anfangs schwer, authentische Quellen zu finden. Die Geschichte der jeweiligen Schritte zu entdecken und Wissen zu sammeln war eine lange Reise. Mittlerweile beschäftige ich mich damit nun schon fast 15 Jahre. Anfangs war die einzige Möglichkeit für mich, sich mit Menschen in real life, also persönlich, auszutauschen. Das ging entweder auf großen Tanzcamps der afrikanischen Diaspora in Europa oder über andere afrikanische Tänzer, die für Shows hierherkamen. Die habe ich angeschrieben, mit ihnen trainiert und viele Fragen gestellt. Nach Ghana hatte ich natürlich einen eigenen Bezug und bin hingereist, um dort mit der Szene zu arbeiten. Insgesamt gab es für mich aber nur wenige digitale Quellen, das ist heute anders, man bekommt viel mehr vom afrikanischen Kontinent direkt mit, zum Beispiel über Instagram.
Wie kann man sich solche Tanzcamps vorstellen?
Die sind meist von der Diaspora in Europa organisiert, aber es werden immer Tänzer aus afrikanischen Staaten als Dozierende eingeladen. Oft sind die Einreise und der Papierkram ein Problem. Manchmal klappt es auch mal nicht mit der Anreise. In Europa ist Paris der beste Ort, um sich auszutauschen. Dort ist die afrikanische Community total aktiv. Da gibt es das „Afreekas Best Dance Camp“, wo man unbedingt hingehen sollte, wenn man alles zu afrikanischem Tanz wissen will. Ich selbst war drei Jahre Teilnehmer, und im vierten Jahr wurde ich eingeladen, um zu unterrichten. Das ist echt ein Erlebnis, man hat 6 bis 7 Kurse pro Tag, und dann gibt es noch Konferenzen, Podiumsdiskussion und Fragerunden. Man befasst sich dann wirklich mit der Kultur. Das ist nicht mehr nur Entertainment. Man geht hin, um sich weiterzubilden.
Sie sprachen von Instagram als Plattform für Tanzvideos aus Afrika. Immer mehr junge Menschen erhoffen sich globale Aufmerksamkeit für ihre Videos und erfinden immer neue Moves. Wie behält man da den Überblick?
Instagram Challenge Die Popsängerin Beyoncé rief zu einem Wettbewerb auf, in dem eigene Choreografien aus afrikanischen Tanzschritten auf Instagram online gestellt und geteilt wurden.
The AfroGIANT wird Isaac Kyere genannt, weil er 1,90 Meter groß ist und Schuhgröße 48 hat. Mit seinem Instagram-Account @Isaacmik hat er an Beyoncés Wettbewerb teilgenommen. Accounts wie @nweworldwide oder @chopdaily zeigen täglich afrikanische Tänze. Für sie ist Instagram das, was für Musik früher die Charts waren.
Ja, das ist manchmal gar nicht so leicht. Es ist großartig, zu sehen, wie viel Neues entsteht. Aber es ist auch eine kontroverse Sache, wenn Leute nur im Internet viral gehen wollen und sich gar nicht mit den Grundlagen des Tanzes beschäftigen. Sachen kopieren, zusammenwerfen, ein Video machen und hoffen, dass das dann möglichst populär wird. Was in der Musik früher die „Charts“ waren, wo man unbedingt eine Platzierung bekommen wollte, sind im Tanz heute einzelne Instagram-Accounts mit Millionen von Abonnentinnen und Abonenten. Ein Beispiel ist „nwe“, dort wird fast nur afrikanischer Tanz gezeigt. Ich habe da auch schon Videos platzieren können, wurde „gereposted“ und konnte so weltweit Fans gewinnen. Aber eigentlich sollte man seine Kunst nicht nach kurzen Videosequenzen richten. Daher kam für mich die Idee des „African Dance Dictionarys“, um aus Entertainment Bildung zu machen.
Sie haben im ersten Lockdown ein Video mit Peter Fox’ Projekt „Ricky Dietz“ gemacht. Es hieß „Don’t touch my face“. Sind Video-Inszenierungen durch Corona beliebter geworden?
Isaac Kyere
29, professioneller Tänzer, Choreograf und Tanzexperte. Er wurde in Ghana geboren, ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und hat Wirtschaftsingenieurwesen studiert.
Ja, durch die Absage von Festivals und Kursen passiert noch mehr auf Tiktok und Instagram. Die Krise wird dort kreativ verarbeitet. Man will ja als Künstler den Zeitgeist treffen, also wurde auch mit Maske und Handschuhen getanzt oder Desinfektionsmittel in die Choreo eingebaut. Gefühlt hatte eine Zeit lang fast jedes Video was mit Corona zu tun.
Apropos Entertainment, der Weltstar Beyoncé hat im August ein neues Musikvideo zu dem Lied „Already“ veröffentlicht, in der Symbolik einer Heimkehr nach Afrika. Die Tanzmoves aus dem Video sind ein Riesenerfolg auf Social Media und ein Mix der modernen Afro-Stile. Bedienen sich Superstars wie Beyoncé an der Kultur oder fördern sie sie?
Es ist eine Win-win-Situation. Es ist sehr verständlich, eben weil es gerade so einen Hype um afrikanischen Tanz und die Musik gibt und parallel im Schwarzen Amerika die Idee, „zurück zu den Wurzeln“ zu schauen. Und wenn Superstars wie Beyoncé ein Licht auf Afrika werfen, ist das auch für die afrikanischen Künstler gut, um zu zeigen, wie reich die Länder kulturell sind, und das Bild ein Stück zu ändern. Hätte sie das Video einfach so gemacht, ohne zum Beispiel Tänzer aus Ghana einzubeziehen, wäre das nicht cool gewesen. Aber dadurch, dass die größten Tänzer wie „Afrobeast“, „Dancegod Lloyd“ aus Ghana im Video vorkommen, bewerte ich das anders. So bekommen sie plötzlich weltweite Aufmerksamkeit. Problematisch finde ich nur, wenn die Tanzschritte aus dem Video am Ende als „Beyoncés Schritte“ in die Geschichte eingehen. Weil sonst vergessen wird, dass jeder Schritt bereits eine Geschichte hat.