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Choreografin Ursina TossiWege ins Ungewisse

Grenzen ausloten, überschreiten und Exzesse wagen: Die Hamburger Choreografin Ursina Tossi setzt das Publikum gern mit auf die Bühne.

Empfiehlt Künstler:innen, sich dem Nicht-Wissen auszusetzen: Choregrafin Ursina Tossi Foto: Miguel Ferraz Araújo

Es sind Performances zu den Ursprüngen der Welt und zu den Abgründen der Seele. Sinnlich, organisch und aktionistisch. Sie feiern die Jagd und den Instinkt, die Wut und den Widerstand, sind Strategie, Sehnsucht und Exzess. Die Choreografin Ursina Tossi hat sich dem Ausloten und dem Überschreiten von Grenzen verschrieben.

„Excessive showing“ nennt sie ihr Ensemble, mit dem sie Konzepte von Geschlecht, Spezies, Bild und Körper hinterfragt. In „Revenants“, 2020 am Hamburger Produktionszentrum Kampnagel gezeigt, erweckte Tossi Figuren aus Geschichte(n) und (Pop-)Kultur (wieder) zum Leben und beleuchtete sie aus einer feministischen Perspektive.

„Swan Fate“ (2022) war dann eine Auseinandersetzung mit den kanonischen Bildern des klassischen Balletts und der Gewalt, die in ihnen steckt. Und in „Hell – Eine erotische Bejahung von Tod, Dunkelheit und Katastrophe“ (2023) gaben sich die Per­for­me­r*in­nen nahezu infernalen Zuständen hin. Die Zu­schaue­r*in­nen platziert die in Hamburg und Köln arbeitende Tossi oft ebenerdig auf die Bühne, nah am Geschehen, an den Bewegungen und Emotionen, jenen „Wetterlagen und Atmosphären, durch die wir mit dem Publikum reisen und die unsere Körper transformieren“, wie sie es nennt.

Aufgewachsen ist Tossi in den 1980er Jahren im Rhein-Neckar-Delta, in der Nähe von Heidelberg. Erst mit 25 begann sie eine klassische Tanzausbildung an der Ballettakademie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen, parallel dazu ein Philosophiestudium. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihr Abitur nachgeholt und war alleinerziehende Mutter einer siebenjährigen Tochter. „Ich hatte zu viel Energie. Die Entscheidung für den Tanz war eine Konsequenz daraus, ich wollte mich den ganzen Tag bewegen“, sagt sie rückblickend. Und auch, dass die Ausbildung eine ziemlich wilde Erfahrung gewesen sei, „mit den Reglementierungen und der Kritik am Körper“, so Tossi.

Arbeit in der Altenpflege

Anfang der 2000er Jahre zog sie nach Hamburg, arbeitete zunächst in der Altenpflege, unterrichtete etwa an der Contemporary Dance School Hamburg, an Universitäten und Hochschulen auch in Nordrhein-Westfalen. Schließlich bahnte sie sich ihren Weg zurück zum Tanz selbst und zur Performance: Ihre ersten Produktionen entstanden auf der freien Hamburger Bühne „Sprechwerk“, später dann auf Kampnagel.

2014 absolvierte sie ihren Masterabschluss in Choreografie am ArtEZ – University of Arts in Arnheim, 2019 wählte die Fachzeitschrift tanz sie zum „vielversprechenden Talent“, und im Jahr 2024 wurde „Hell“ mit dem Tanztheaterpreis Köln ausgezeichnet. Regelmäßig ist Tossi eingeladen zu nationalen und internationalen Gastspielen, zu Vorträgen und Residenzen; sie war Stipendiatin beim Vienna Impuls Dance Festival und Residentin etwa am Tanzhaus Zürich.

„Was ist eigentlich der Körper in unserer Gesellschaft? Was kann Körper sein und was nicht?“, das sind zentrale Fragen, wie die 52-Jährige sie in ihren Stücken verhandelt; Fragen, die ihre „aesthetics of access“ antreiben. Besonderes Augenmerk auf Barrierefreiheit und Zugänglichkeit sind ebenso Teil ihrer choreografischen Praxis, wie die künstlerische Audiodeskription oder eine Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache ihre Arbeiten begleiten.

Was ist eigentlich der Körper in unserer Gesellschaft? Was kann Körper sein und was nicht?, das sind Fragen, die Tossi in ihren Stücken verhandelt

In der jüngsten Vergangenheit entwickelte sie Performances auch für junges Publikum. Darunter „Fux“ (2021), für das sie 2023 den Kindertheaterpreis Hamburg erhielt und „Die Nashörner“ (Theater an der Parkaue Berlin, 2025).

Im kommenden Herbst, ab 30. Oktober, wird „Fühler“ auf der Bühne des Jungen Schauspielhauses in Hamburg zu sehen sein. Ein Abend, den Tossi in Zusammenarbeit mit den Choreografinnen Antje Pfundtner und Jenny Beyer entwickelt. Er entsteht im Rahmen von „Shared Leadership in Dance“, einem ganz neuen, erklärt kollaborativen Modell, das die drei Künstlerinnen ins Leben gerufen haben: Banden bilden, Ressourcen teilen, Kräfte bündeln.

Tänzerinnen als sich balgende Meute

Voller Kraft und Energie sind Tossis Arbeiten und auch voll verschwörerischem Witz, waghalsig und wild. Oft kommen die Tän­ze­r*in­nen darin als sich balgende Meute zusammen. Sind sie balzende Vögel, sich beschnuppernde Wildkatzen? Oder Wölf*innen, Hyänen, Chimären? „Sie zeigen nicht nur, dass Tanzen an sich Unkontrollierbares erzeugt“, schreibt sie im soeben erschienenen Buch „Die Philosophie des Tanzens“. Und weiter: „sondern auch, dass die Plastizität ihrer Körper, ihre Verwandlungsfähigkeit und Verwandlungslust neue Möglichkeiten des Körperseins und Zusammenseins erschaffen kann“.

„Die Philosophie des Tanzens“, hg. von Ursina Tossi und Maximilian Probst. Mairisch Verlag, Hamburg 2025. 240 S., 24 Euro; E-Book 19,99 Euro

Buchpremiere: Mo., 22. 9., 19 Uhr, Hamburg, Kampnagel

Auch davon, dass sie 2017 angefangen hat, ihre Arbeitsweisen „wilding“ zu nennen, schreibt sie in dem Band. „Wilding“ versteht Tossi als Handlungsanweisung, „sich als Künst­le­r*in dem Ungewissen, dem Nicht-Wissen auszusetzen und sich dabei nicht aus den Augen zu verlieren“.

Auf der Bühne sucht und findet sie – gemeinsam mit den Tän­ze­r*in­nen – immer wieder Wege ins Ungewisse, überschreitet Grenzen, wagt Exzesse. In faszinierender Bilddichte entstehen auf diese Weise fließend weich komponierte, pulsierende tableaux vivants, in denen die Tän­ze­r*in­nen sich in einem gemeinsamen Körper aufzulösen scheinen. Raunend, faunisch und herrlich unberechenbar.

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