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Chinesischer Film „Caught by the Tides“In das Leben hineinstolpern

Mit „Caught by the Tides“ folgt der Regisseur Jia Zhang-ke einem Paar, dessen Schicksal für die Transformation der chinesischen Gesellschaft steht.

Qiao (Zhao Tao) lässt den Blick schweifen über die Straßen von Datong im Nordosten Chinas Foto: Rapid Eye Movies

In sich gekehrt lächelnd und mit erhobenen Händen eine Strickjacke zuhaltend geht Qiao (Zhao Tao) eine Straße in einem Außenbezirk der Bergbaustadt Datong herunter. Einige der Häuser am Rand der Straße sind nur halbfertig, andere schon wieder am Verfallen. Eine Gruppe junger Männer beginnt, die Frau mit Motorrädern zu umkreisen. Anfangs stört das Qiaos Vergnügen nicht, doch mit wachsender Aufdringlichkeit der Männer werden ihre Gesichtszüge ernster, sie weicht entschlossener aus, bis sie schließlich einen Backstein von einer der Baustellen am Wegrand aufhebt und in Richtung der Nervbolzen wirft.

Dann geht Qiao zügig, aber erhaben weiter. Auch in „Caught by the Tides“ (auf Deutsch: Von den Gezeiten ergriffen) bringt der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke wieder aus seinem früheren Schaffen vertraute Elemente zusammen: Die Bergbaustadt ist seit einem Vierteljahrhundert ein wiederkehrender Ort in Jias Filmen, und die Schauspielerin Zhao Tao, die Jias Filme beinahe ebenso lang prägt. „Caught by the Tides“ feierte letztes Jahr im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes seine Premiere, nun kommt er auch in Deutschland in die Kinos.

In einem gemeinsamen Interview erklärte Jia 2010, was ihn an Zhao als Schauspielerin so fasziniert: „Sie hat eine besondere Fähigkeit: Sie kann sich sehr schnell an einem Ort einfügen.“ In „Caught by the Tides“ gleitet Zhao als Qiao wortlos durch die sich wandelnde Umgebung. Qiaos Partner Bin (Li Zhubin) beschließt bald, sein Glück im Immobilienboom der frühen 2000er Jahre im Südwesten Chinas zu versuchen. Er verlässt Datong und lässt Qiao zurück mit dem Versprechen, sie nachzuholen, wenn er sich etabliert hat. Als er sich nicht mehr meldet, reist Qiao ihm schließlich hinterher und beginnt, in der Großstadt nach ihm zu suchen.

Großes Panorama

„Caught by the Tides“ verwebt elegant Material aus verschiedenen Zeit­ebenen. Zugleich zieht Jia unübersehbare Verbindungslinien zu seinen früheren Filmen. So taucht die Figur Qiao erstmals in „Unknown Pleasures“ von 2002 auf, in dem drei junge Leute dabei gezeigt werden, wie sie durch Datong driften. Am offensichtlichsten sind die Bezüge zu Jias letztem Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ von 2018. Beide Filme breiten ein großes Panorama der Veränderungen aus, die Datong, aber auch die Regionen, die vom Dreischluchtendamm betroffen sind, in dem Vierteljahrhundert seit Beginn der 2000er Jahre durchlaufen haben. Durch seine Protagonistin, die Ähnlichkeit ihrer Partner in den beiden Filmen und die Schauplätze wirkt „Caught by the Tides“ wie der zweite Teil eines Diptychons, in dem „Asche ist reines Weiß“ sich auf die männliche Figur konzentriert und Jias neuer Film auf eine weibliche Perspektive.

Wie „Asche ist reines Weiß“ beleuchtet „Caught by the Tides“ über die mehr als 20 Jahre dauernde Geschichte der Beziehung zwischen Qiao und Bin – und eine Zeitspanne, die zu den prägendsten der Volksrepublik China gehörte. Jia macht dabei die Veränderungen und Verwüstungen sichtbar – individuell wie gesellschaftlich. Qiao und Bin stehen nach dem Ende des Bergbaus in Datong beide vor einem Neuanfang und gehen dabei sehr unterschiedliche Wege. Während Bin für kurze Zeit am großen Boom teilzuhaben glaubt, wird er schon bald zum Bauernopfer einer Unternehmerin und geht für deren Geschäfte ins Gefängnis.

Qiao hingegen steht nach der erfolglosen Suche nach Bin ein weiteres Mal vor einem Neuanfang, diesmal ohne männlichen Ballast. In einem Interview mit Jia, das im Pressematerial zum Film wiedergegeben wird, schlägt er als Übersetzung des Originaltitels „Feng Liu Yi Dai“ vor: „Eine treibende Generation“. Wie viele seiner Filme ist „Caught by the Tides“ individuelle Geschichte und prototypisches Generationenporträt zugleich.

2001 reiste Jia Zhang-ke erstmals nach Datong, im Norden seiner Heimatprovinz Shanxi. Der erste Film, der daraus entstand, war der kurze Dokumentarfilm „In Public“ (2001), der den Alltag in der ehemaligen Bergbaustadt kurz nach Schließung der Kohleminen zeigte.

Jia macht die Veränderungen und Verwüstungen sichtbar – individuell wie gesellschaftlich

Vor allem zu Beginn von „Caught by the Tides“ greift Jia immer wieder Material auf, das auf dieser und weiteren Reisen nach Datong entstand. So in einer Szene mit einer Gruppe Frauen in einer Art Wartesaal, die klassische und damals populäre Lieder ansingen, soweit ihre Textkenntnisse reichen, oder in einer Sequenz, die einen Mann zeigt, der dem örtlichen Kulturhaus neues Leben einhauchen will. Jia verschränkt dieses Material elegant mit neu gedrehtem, etwa wenn Qiao auf einer der Straßen von Datong steht und den Blick von rechts nach links schweifen lässt. Ihr gegenüber steht eine Gruppe von Menschen, gefilmt Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zuvor.

Jia Zhang-ke ist einer der zentralen Regisseure, die dem Kino der Volksrepublik in den 1990er Jahren den Realismus zurückgegeben haben. Mit nüchternem Blick haben Jia und die anderen Regisseure der sogenannten Sechsten Generation in ihren Filmen die Transformation der chinesischen Gesellschaft und deren Auswirkungen vor allem in den Städten in den Blick genommen. Jias Filme sind stärker als die von Regisseuren wie Lou Ye, Zhang Yuan oder Wang Xiaoshuai durch den Wechsel zwischen den Formen geprägt, zwischen Kurz- und Langfilm, zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Wie die seiner Kollegen umspannen viele von Jias Filmen in ihrer Handlung einen langen Zeitraum.

Vor allem im letzten Jahrzehnt ist Jia zudem zu einem ebenso wichtigen wie eigensinnigen Akteur der Kulturszene Chinas geworden. 2017 fand erstmals das von ihm gegründete Pingyao Film Festival statt, seit 2019 organisiert Jia in seiner Heimatstadt ein Literaturfestival, zu sehen in seinem Dokumentarfilm „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“, der 2020 auf der Berlinale Premiere feierte.

Zhao Taos Karriere begann mit einer Ausbildung als Tänzerin, die sie auf dem Umweg über Auftritte als Tänzerin in dem Themenpark „Fenster zur Welt“ im südchinesischen Shenzhen als Tanzlehrerin an die Universität von Taiyuan in Shanxi führte. Bei einer ihrer Unterrichtsstunden wurde Jia auf sie aufmerksam und besetzte sie 2000 in „Platform“, seinem ersten Film, der im Wettbewerb eines internationalen Festivals lief. Seither spielte sie in vielen von Jias Filmen die Hauptrolle. 2012 heirateten die beiden.

„Caught by the Tides“

„Caught by the Tides“. Regie: Jia Zhang-ke. Mit Zhao Tao, Li Zhubin u. a. China 2024, 111 Min.

Anders als der Vorgängerfilm „Asche ist reines Weiß“ entspannt „Caught by the Tides“ kein episches Panorama der Transformation Chinas, sondern zeigt zwei Leben, die von Entscheidungen und den Umständen geprägt vor dem Hintergrund dieser Transformation zusammen- und wieder auseinanderdriften. Qiao und Bin sind zwei Vertreter_innen der „treibenden Generation“, die sich inmitten der Auswirkungen der Politik und den Läufen des Lebens zu behaupten versucht.

Am Ende des Films tut man gut daran, sich zu erinnern, dass der Film mit einem Song der Pekinger Punk-Band Brain Failure begonnen hat. Die Textzeile aus „Underground“ lautet übersetzt: „Nicht einmal ein Lauffeuer kann alles Unkraut verbrennen, es wird in einer Frühlingsbrise nachwachsen.“ Brain Failure, gegründet 1997, treten weiterhin auf. Auch die Selbstbehauptung angesichts der Unbill, die Qiao in Jias neuem Film verkörpert, ist durchaus prägend für jene Generation, die in ein Erwachsenenleben in der Volksrepublik der 1990er Jahre hineingestolpert ist. „Caught by the Tides“ findet eine Filmsprache für diese Poesie des eigensinnigen Lebens und durch diese zu einer seltenen Schönheit.

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1 Kommentar

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  • Zur Zeile der Punkband, „Nicht einmal ein Lauffeuer kann alles Unkraut verbrennen, es wird in einer Frühlingsbrise nachwachsen": In dem "Prolog" (Xu) zu seiner Gedichtsammlung "Unkraut" (Yecao, 1927) schreibt der von Mao posthum zum Nationalheiligen verklärte Lu Xun (1881-1936): "Ein Feuer geht unter der Erde hin, es rast und bricht hervor, und wenn die Lava ausströmt, wird sie das Unkraut versengen, und selbst die hohen Bäume, bis nichts mehr übrig ist / Doch ich bin gelassen, und unbeschwert. Ich möchte lachen und Lieder anstimmen" (Werke in sechs Bänden, Bd IV:82). Das wiederum ist eine Antwort auf Nietzsche, dessen Zarathustra proklamiert: "- armes Kraut! Armes Erdreich! / Und bald sollen sie mir dastehen wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! Ihrer selber müde - und mehr als nach Wasser, nach dem Feuer lechzend! / Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: - / - verkünden sollen sie mir einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe, der grosse Mittag /" (Werke (Schlechta), Bd. II:422). Der als zeitlebens als "Nietzsche Chinas" bezeichnete Lu Xun haderte mit deiner Unfähigkeit, den Nihilismus zu überwinden. Der Punk-Band...