China schweigt für Erdbeben-Opfer: Innehalten im Sandwich-Laden
Solidarität mit den Opfern des Bebens: Erstmals wird in China um einfache Bürger statt um tote Parteiführer öffentlich getrauert.
PEKING taz Als die Sirenen um 14.28 Uhr erklingen, stehen Verkäuferinnen und Kunden im Pekinger Yashiow-Kaufhaus still: Drei Schweigeminuten hat die Regierung angeordnet, um der Opfer des Erdbebens zu gedenken, das Montag letzter Woche zur selben Zeit Zehntausende Menschen in der Provinz Sichuan verschüttet und getötet hat.
Seit Montag früh hängen auf dem Tiananmen-Platz im Herzen Pekings und im ganzen Land die Flaggen auf Halbmast. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Volksrepublik, dass die dreitägige Staatstrauer nicht einem verstorbenen KP-Führer, sondern gewöhnlichen Bürgern gilt. Über 34.000 Tote haben die Retter mittlerweile gezählt, zehntausende Opfer dürften noch in eingestürzten Häusern, Schulen, Geschäften und unter Erdmassen begraben sein. In manchen schwer erreichbaren Dörfern der bergigen Regionen Sichuans haben die Retter überhaupt noch nicht helfen können. Stündlich sinkt die Hoffnung, noch Lebende zu bergen. Am Montag konnten aber noch mehrere Verschüttete gerettet werden.
Schweigeminuten sind in China eine neue Form der Trauer und Solidarität: Montagfrüh haben örtliche Parteikader und Manager der Kaufhäuser den Untergebenen erklärt, was es damit auf sich hat: "Sie habe uns gesagt, dass wir bei allem einfach innehalten und ruhig bleiben sollen, bis die drei Minuten vorbei sind", berichtet Herr Zhou im Supermarkt. Im Sandwich-Laden nebenan unterbrechen die Kundinnen ihr Essen. Sie haben am Abend zuvor im Fernsehen bei der Benefiz-Gala gehört, was zu tun ist. Auf dem Schulhof der benachbarten Mittelschule stehen die Kinder, ein wenig aufgeregt, unter den Blicken ihrer Lehrer still. Auf der Straße bleiben die Autos stehen und hupen, auf den Baustellen lassen Arbeiter die Kellen sinken.
Zwei Fernseher sind im Eingang des Yashiow-Kaufhauses im Pekinger Osten aufgestellt worden. Sie zeigen Bilder vom Tiananmen-Platz, von Ministerien und vom Erdbebengebiet. An der Wand hängen hinter einer Spendenbox lange Listen mit den Namen von Verkäufern und Kunden, die gespendet haben: Lin Jinnu vom Verkaufsstand B1143 gab 100 Yuan, Yu Mingsheng vom Stand 4059 doppelt so viel.
Der Wunsch der Bevölkerung, Mitgefühl mit den Opfern zu zeigen, ist überall zu spüren. Hilfen im Wert von rund 840 Millionen Euro sind inzwischen eingetroffen, 15 Prozent kamen aus dem Ausland, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua am Wochenende. Ein Benefizkonzert in der Stadt Chongqing mit Künstlern aus China und Deutschland hat Millionen Euro gebracht. Der deutsche Trainer der chinesischen Olympia-Ringer, Wolfgang Nitschke, berichtet, dass er und seine Sportler Blut und Geld gespendet haben, "das macht hier fast jeder."
Viele Zeitungen erschienen am Montagmorgen in schwarz-weißen Trauerausgaben, manche trugen nur ein oder zwei Schriftzeichen auf dem Titel wie "Die Nation trauert" oder "Kummer". Bis Mittwochabend wird der Olympia-Fackellauf unterbrochen, Karaoke-Bars und Clubs sind geschlossen, öffentliche Konzerte verschoben worden. Sogar im Internet sind Unterhaltungsseiten gesperrt worden. An den Börsen von Schanghai und Shenzhen wird nicht gehandelt.
Die Nachbeben der letzten Tage brachten derweil neues Unglück. Laut Medienberichten sollen am Wochenende zweihundert Retter durch neue Erdrutsche verschüttet wurden sein.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine
„Wir sind nur kleine Leute“
Wahlkampf in Deutschland
Rotzlöffeldichte auf Rekordniveau
Buch über Strategien von AfD und Putin
Vergangenheit, die es nie gab