Chile nach den Protesten: Adiós Neoliberalismo
Am 4. Juli tagt in Chile erstmals die Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeiten wird. Sie will dem Erbe der Pinochet-Diktatur ein Ende setzen.
Die Plaza de la Dignidad, der Platz der Würde, ist das Zentrum der sozialen Revolte, die sich seit mehr als einem Jahr gegen Ungleichheit, die Verfassung aus der Pinochet-Diktatur und das darin verankerte neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell richtet. Augusto Pinochet regierte das Land von 1973 bis 1990.
Im Oktober feierten Millionen von Menschen auf der Plaza de la Dignidad, nachdem bei einem Referendum knapp 80 Prozent der Bevölkerung für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hatten. Und auch wenn die Coronapandemie die Straßenproteste und landesweiten basisdemokratischen Versammlungen oft verstummen ließ, der Wille nach Veränderung hat in Chiles Bevölkerung bis heute nicht nachgelassen.
Das macht auch die Zusammensetzung des Gremiums deutlich, das die neue Verfassung erarbeiten wird. Mehr als die Hälfte der 155 Mitglieder sind Parteiunabhängige, die sozialen Bewegungen und Organisationen angehören: der feministischen Bewegung, regionalen Umweltbewegungen und Nachbarschaftsversammlungen.
Die Natur soll Rechte kriegen
„Wir sind eine Alternative zu den politischen Parteien, die jahrelang vom Wirtschaftssystem profitiert haben, das aus der Zeit der Diktatur stammt“, sagt Elsa Labraña. Sie ist Mitglied eines feministischen Kollektivs und mehrerer Umweltschutzorganisationen.
Labraña kommt aus Curicó in der Maule-Region südlich von Santiago, in der Monokulturen die Landschaft bestimmen. Hier gibt es die meisten Krebstoten im ganzen Land. „Wir wollen eine Verfassung, die die Umwelt schützt. Die Natur sollte zum Rechtssubjekt erklärt werden, damit die Ökosysteme erhalten bleiben. Die Monokulturen müssen verschwinden. Sie gefährden unsere Gesundheit“, sagt sie.
Die parteiunabhängige Lista del Pueblo („Liste des Volkes“), zu der Labraña gehört, erhielt bei den Wahlen im Mai 27 Sitze im Verfassungskonvent. Weil sich landesweit parteiunabhängige Kandidat*innen zu dieser Liste zusammenschlossen, hatten sie eine Chance gegen die traditionellen Parteien, die vom Wahlsystem profitieren. Die rechten Regierungsparteien erreichten das von ihnen erhoffte Drittel der Sitze nicht, mit dem sie Veränderungen hätten blockieren können.
Die Parteien der ehemaligen Concertación – der Mitte-links-Koalition, die Chile nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 bis 2010 regierte – erhielten nur 25 Sitze. Viele machen sie für den Fortbestand des neoliberalen Modells verantwortlich.
Für ein würdevolles Leben
„Der Verfassungskonvent hat eindeutig eine linke Tendenz und es ist zu erwarten, dass er eine anti-neoliberale Agenda haben wird“, sagt Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin an der Universidad de Chile. „Es ist außerdem zu erwarten, dass die öffentlichen Institutionen und die Rolle des Staats gestärkt werden, hin zu einem Sozialstaat als Gegenposition zum neoliberalen Staat, den die Verfassung von 1980 garantiert.“
In Chile wurden die soziale Grundsicherung, die natürlichen Ressourcen und das Wasser während der Pinochet-Diktatur zu großen Teilen privatisiert. Im Verhältnis zu den hohen Lebenshaltungskosten sind die Löhne sehr niedrig. Deshalb müssen sich viele verschulden, um Bildung, Gesundheitsversorgung, Strom und Wasser zu bezahlen. „Una vida digna“, ein würdevolles Leben, war eine der Hauptforderungen der Revolte.
„Hinter dem Begriff Würde stecken der Wunsch nach mehr sozialer Sicherheit und nach politischer Teilhabe“, sagt Heiss. „Die wichtigsten Themen im Verfassungskonvent werden deshalb die sozialen Rechte sein sowie die Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Entscheidungen.“ Die Mitglieder des Verfassungskonvents, die von sozialen Bewegungen und Organisationen unterstützt werden, fordern Garantien für die demokratische Beteiligung der Bevölkerung während des verfassungsgebenden Prozesses.
Die Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera, die für die Rahmenbedingungen des Verfassungskonvents zuständig ist, hat bisher wenig dazu beigetragen. Das öffentliche Budget, das für die Bürgerbeteiligung vorgesehen ist, ist genau so groß wie das Budget, das für die private Sicherheitsfirma bestimmt ist, die den Konvent begleiten soll. Und der Vertrag, den die Regierung mit einem Streaming-Unternehmen abgeschlossen hat, das die Sitzungen des Verfassungskonvents übertragen soll, enthält eine Klausel, die besagt: Nur Inhalte, die von der Regierung zuvor autorisiert wurden, dürfen übertragen werden.
„Wir wollen, dass das ganze Land am verfassungsgebenden Prozess teilnimmt, nicht nur die 155 Mitglieder des Konvents. Der Regierung ist das aber egal“, sagt Elsa Labraña. „Es sind keine Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung vorgesehen. Wir organisieren deshalb selbst basisdemokratische Treffen.“
Auslöser Im Oktober 2019 kündigte Chiles Präsident Piñera an, die Preise für U-Bahn-Tickets zu erhöhen. Daraufhin kam es zu ersten Protesten. Schnell ging es um mehr: soziale Ungleichheit, eine neue Verfassung. Piñera rief am 18. Oktober den Ausnahmezustand aus.
Erstes Referendum Am 25. Oktober 2020 stimmte die Bevölkerung darüber ab, ob sie eine neue Verfassung wolle, und wenn ja, wer diese ausarbeiten solle. Eine deutliche Mehrheit stimmte für eine Verfassungsänderung.
Die Verfassunggebende Versammlung wurde im Mai 2021 gewählt. Die 155 Sitze teilen sich Männer und Frauen zu gleichen Teilen. 17 Sitze sind für die indigene Bevölkerung reserviert.
Zweites Referendum 2022 soll die neue Verfassung in einer zweiten Abstimmung bestätigt werden.
Politikwissenschaftlerin Heiss zufolge ist die Art der Regierung, politische Entscheidungen unter Ausschluss der Bevölkerung zu treffen, ein Erbe der Diktatur. „Das politische System in Chile ist extrem elitär und diskriminierend“, sagt sie. „Die Zusammensetzung des Verfassungskonvents ist etwas komplett Neues: Er repräsentiert viel stärker die Gesellschaft als jedes andere politische Organ. Es gibt Frauen, Indigene, Menschen mit verschiedenen Bildungshintergründen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Regionen.“
„Sprache ist Macht“
Der Verfassungskonvent ist der erste der Welt, der zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern besteht. Siebzehn Sitze sind für die zehn indigenen Völker Chiles reserviert. Aber die Regierung weigert sich bisher, den Vertreter*innen indigener Völker Übersetzer bereitzustellen.
„Sprache ist Macht. Wenn unsere Sprachen zum Schweigen gebracht werden, heißt das, dass der chilenische Staat seine Macht nicht teilen will“, sagt Elisa Loncón, die von den Mapuche in den Verfassungskonvent gewählt wurde. Die Mapuche sind das größte indigene Volk Chiles, etwa 10 Prozent der Bevölkerung fühlen sich ihnen zugehörig.
In der aktuellen Verfassung wird die Existenz der indigenen Völker nicht anerkannt. Ihnen wurde bisher die politische Teilhabe extrem erschwert. „Keine chilenische Verfassung hat die Rechte der indigenen Völker berücksichtigt. Weil unsere Rechte auf Land, Sprache und Selbstbestimmung nicht anerkannt werden, wird das Volk der Mapuche politisch verfolgt“, sagt Loncón. „Das neoliberale Modell hat unsere Territorien zerstört.“
Soziale Bewegungen und einige linke Parteien unterstützen die indigenen Völker in ihren Forderungen. Eine Gruppe von mehr als 40 Mitgliedern des Verfassungskonvents hat eine Liste mit sechs Punkten veröffentlicht, die sie als Voraussetzung für die Arbeit des Verfassungskonvents betrachten.
Dazu gehören die Freilassung der politischen Gefangenen der Revolte, Gerechtigkeit und Reparationen für die Opfer der Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär bei den Protesten, die Entmilitarisierung indigener Territorien und die Souveränität des Verfassungskonvents.
Wasserwerfer warten auf ihren Einsatz
Mit Souveränität ist beispielsweise die Unabhängigkeit von Freihandelsabkommen gemeint. Als Regierungs- und Oppositionsparteien am 15. November 2019, während des Höhepunkts der Revolte, das sogenannte Friedensabkommen für eine neue Verfassung schlossen, fügten sie einen Artikel hinzu, der besagt, dass die neue Verfassung alle von Chile unterschriebenen Freihandelsabkommen respektieren muss. Chile verhandelt gerade unter anderem ein neues Abkommen mit der Europäischen Union.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Diese Abkommen sind die Grundlage des neoliberalen Modells in Chile“, sagt Elsa Labraña. „Wenn der Verfassungskonvent ihnen untergeordnet ist, wird es sehr schwer, das Modell zu verändern.“
Die Plaza de la Dignidad wird mittlerweile rund um die Uhr von der Polizei bewacht. Wasserwerfer und Tränengasfahrzeuge warten auf ihren Einsatz.
Die Reiterstatue des Militärgenerals Baquedano in der Mitte des Platzes wurde nach Anordnung der Regierung abmontiert, um sie vor Vandalismus zu schützen. Eine Mauer aus Stahl beschützt den leeren Sockel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“