Chemiegifte: Spurensuche in Urin und Blut
Es finden sich viele Gifte in der Umwelt. Die Frage ist, ob sie in den Körper gelangen. Wegen PCB wurde schon eine Schulen abgerissen. "Voreilig" sagen heute Umwelttoxikologen. Ein Porträt der Zunft.
Die Zunft der Umwelttoxikologen wurde immer ein wenig belächelt. Ihnen fehlte es lange Jahre an guter Analytik, um die Gefahren, die etwa von Pestiziden oder Rußpartikeln ausgehen, richtig abzuschätzen. Ein zweiter Grund: Man beschäftigte sich vor allem mit dem Auffinden und Messen von Giftstoffen in unserer Umgebung, genannt Ambient Monitoring.
Dies führte häufig zu Fehlschlüssen. Heute befassen sich Umweltmediziner gemeinsam mit Chemikern und Biologen daher mehr mit dem Menschen, der Giftstoffe aus der Nahrung oder über die Atmung aufnimmt, und damit, wie er diese Stoffe abbaut, speichert oder - im günstigsten Fall - ausscheidet (Human Monitoring).
Damit hat sich die Wissenschaft vollkommen gewandelt, was auch die Fachwelt honoriert. Die Umweltspezialisten gelten nicht mehr als Panikmacher. Umgekehrt vermuten auch Umwelt-, Verbraucherschützer und die Bevölkerung hinter den Labortüren nicht mehr parteiische Forscher, die jegliche Gefahr verharmlosen.
Gerade die deutsche Umwelttoxikologie hat einen hervorragenden Ruf. Der Grund dafür ist das Human-Biomonitoring (HBM), das WissenschaftlerInnen am Umweltbundesamt (UBA) seit 20 Jahren fortführen. Daten aus Blut- und Urinproben, Hausstaub und Trinkwasser, zu Wohnsituation, Rauch- und Ernährungsgewohnheiten werden hier gesammelt, um mögliche Gefahren abschätzen und auch zu ihren Quellen rückverfolgen zu können.
"Kein Land hat ein so gut funktionierendes System", meint Nicolas Olea, Mediziner an der Universität in Granada, der die Pestizid-Belastung der Südspanier untersucht. Auch die USA haben mittlerweile ein exzellentes Monitoring, das nach dem deutschen Vorbild gestaltet wurde.
Aus der Umweltstudie, bei der Daten aus dem HBM Eingang finden, weiß man etwa: Die Belastung der Bevölkerung mit einigen Giften ist gesunken. So finden die UBA-Forscher immer weniger Blei, Arsen, Cadmium und Quecksilber sowie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in den Probanden.
Heute weiß man auch, dass die Gruppe der polychlorierten Biphenyle (PCB) zumindest in der Innenraumluft weniger gefährlich sind als angenommen. PCBs kamen bis 1986 in Dichtungsmassen zur Anwendung. Im Tierversuch sind PCBs krebserregend, beim Menschen könnten sie dem Immun- und Nervensystem schaden.
Wegen dieses Biozids musste sogar eine Schule in Nürnberg im Jahr 2001 abgerissen werden. Kostenpunkt: 15 Millionen Euro. "Das war voreilig", so Jürgen Angerer, der auch Mitglied der Kommission Humanes Biomonitoring am UBA ist. Denn: Man schloss vom PCB-Gehalt in der Raumluft, der mit 2.000 ng/qm den Zielwert um fast das 10-fache überschritt, auf eine mögliche Belastung von Schülern und Lehrern im Bereich von 300 ng/l Blut.
Nachträgliche Analysen ergaben jedoch: Im Blut der Kinder fand sich nur 22 ng/l inhaliertes PCB. Diese Menge entspricht fünf Prozent des gesamten PCBs, das ein Körper aufnimmt; 95 Prozent stammen dagegen aus der Nahrung. Zudem ist die PCB-Belastung der Deutschen seit Jahren rückläufig.
Andere Stoffe bereiten Umwelttoxikologen daher mehr Kopfzerbrechen, etwa die Phtalate. Diese verbergen sich in Weich-PVC, Kosmetika, Arzneimittelkapseln oder Wandfarbe - die europaweite jährliche Produktion beläuft sich auf eine Million Tonnen. Sie zählen zu den "endokrinen Disruptoren", die in das Hormonsystem eingreifen.
Angerer hat die Phtalatmenge in einer Teilstudie des Umweltsurveys bei 634 Personen im Urin gemessen. Das Ergebnis: 98 Prozent der Probanden hatten fünf verschiedene Phtalate im Urin, 14 Prozent lagen beim Dibutylphtalat über dem Grenzwert. Auch in Blutproben von Kindern waren die Phtalat-Höchstmengen teilweise um das 10-Fache überschritten.
Darum darf immerhin seit Januar kein Weichmacher mehr in Quietschenten oder Nuckelflaschen gemischt werden. PVC-Hersteller verwenden heute nur noch solche Phtalate, die nach einer EU-Risikobewertung als ungefährlich eingestuft werden. Das UBA plädiert dagegen für einen schrittweisen Ersatz aller bedenklichen Phtalate. "Schließlich belegt die Angerer-Studie, dass Kinder in bedenklichem Maße belastet sind", so Marike Kolossa, Wissenschaftlerin am UBA.
Indes, die Arbeit wird Umweltmedizinern kaum ausgehen. Jährlich kommen 400 Millionen Tonnen der schätzungsweise 100.000 Chemikalien in Umlauf. Im Jahr 1930 waren es gerade mal eine Million. Rund 70 verschiedene Stoffe finden Umweltmediziner im Blut des westlichen Menschen. Und es werden mehr, wenn man weiß, wonach man sucht und entsprechende Tests vorhanden sind.
Für viele der Alltagsgifte fehlen Risikobewertungen. "Was Chemie-Cocktails über Jahre hinweg anrichten, ist nicht erforschbar", so Olea. In Deutschland sind derzeit 250 Pestizide zugelassen. Das allein ergibt eine unendliche Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten. Fakten gibt es daher kaum. Es wird aber vermutet, dass Giftstoffe für die Zunahme von Allergien, Diabetes, Übergewicht, Demenz und Unfruchtbarkeit mitverantwortlich sind.
Und neuerdings hat man auch erkannt, dass nicht jede Chemikalie bei jedem Menschen gleich wirkt. Denn der Umbau der Alltagsgifte oder auch die Ausscheidung hängt sehr stark von Enzymaktivitäten und Genvarianten ab. Wie stark Passivrauchen krebserregend wirkt, hängt beispielsweise davon ab, ob jemand zu den langsamen oder schnellen "Acetylierern" zählt.
Einige Umweltmediziner, etwa Frank Bartram von der Interdisziplinären Gesellschaft für Umweltmedizin, fordern wegen solcher individuellen Unterschiede neue Grenzwerte für Giftstoffe. Der Toxikologe Angerer sieht dagegen derzeit keine Notwendigkeit für eine Generalüberholung von Grenzwerten: "Diese Unterschiede scheinen nicht so stark ins Gewicht zu fallen, wie die variierende Belastung selbst."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!