Chatroulette: Penis. Zack. Penis. Zack. Penis.
Chatroulette würfelt wahllos wildfremde Leute zum Video-Chat zusammen. Da kann man auf einen Exhibitionisten treffen – aber auch auf einen Plüschhai. Ein Protokoll.
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BERLIN taz | Ein alter Mann im BH schaut mich an. Eine Sekunde, zwei, dann wird es schwarz, und es erscheinen zwei Jungs, verkleidet als Spiderman.
Es ist Freitagabend und ich sitze mit einem Bier vor meinem Computer. Seit einigen Wochen geistern absonderliche Fotos und Filmchen durchs Netz: Menschen, die per Videochat miteinander tanzen, sich verkleiden, ihre Brüste zeigen, sich beschimpfen oder zusammen Gitarre spielen. Es gibt Gerüchte von inszenierten Selbstmorden, von sprechenden Tieren, es soll einen Katzenmenschen geben und jemanden, der vor laufender Kamera Zaubertricks macht.
Die Idee von Chatroulette ist simpel, so etwas wie eine Mischung aus Skype und normalen Chatprogrammen: Zwei Bildschirme sieht man auf der Website, einer für mich, einer für den Partner, mit dem man per Zufall zusammengewürfelt wird und dann chatten soll. F9 heißt weiter zum nächsten User, wenn man dem virtuellen Gegenüber nicht gefällt, klickt der einen einfach weg, es gibt weder eine Zurück- noch eine Holdtaste.
Vor fünf Minuten habe ich Start gedrückt, seitdem sind bestimmt über 40 Menschen durch das obere Fenster gerauscht. Emo-Kid. Zack. Älterer Herr. Zack. Penis. Zack. Drei Mädchen. Zack. Penis. Zack. Penis. Zack. Penis.
Seit Ende letzten Jahres gibt es Chatroulette, niemand weiß woher es kommt oder wer es gestartet hat, die IP-Adresse ist in Holland registriert – anonym. Bis jetzt gab es weder Werbung noch großartige Medienaufmerksamkeit, trotzdem sind im Schnitt bis zu 20.000 Menschen gleichzeitig online, die sich unterhalten und durch fremde Wohnzimmer klicken.
Sonderlich Spaß macht es bis jetzt noch nicht, ein Araber zeigt mir den Stinkefinger, ein Plüschhai hat einen Zettel in der Schnauze auf dem „Boobs, plz“ steht. Mit mir reden will niemand, dafür gibt es einen Haufen Exhibitionisten, die mir ihr bestes Stück zeigen wollen. Statt den Trenchcoat zu öffnen, müssen sie nur F9 drücken, Flitzen 2.0.
Drei Soldaten, die ein Lied singen. Zack. Gelangweilter Typ. Zack. Leeres Wohnzimmer. Zack. Chinesin. Immer noch. Immer noch! Mein Puls steigt. Was soll ich sagen? Hallo? Auf Englisch? Oder einfach Hi? Eine Frage stellen? Winken?
Sie: Wad up?
Ich: Hi.
Sie: Where ya from?
Ich: Berlin.
Sie: Cooool! Snow?
Ich: A lot.
Sie: COOOL!
Sie drückt F9, das Gespräch ist aus.
Das war schon mal nicht schlecht, das nächste Mal vielleicht nicht übers Wetter reden. Weiter also, ich werde mutiger, winke manchmal, schreibe Leute an, chatte mit einem Pariser, der gerade einen Burger isst (sehr lecker), sehe einem Typen zu, der auf seinen Bauch mit Edding ein Gesicht gemalt hat und damit Grimassen macht (später will er 40 Pfund von mir, als Bezahlung) und diskutiere über Bollywood Pop.
Nach einer Stunde ist die Verteilung klar: Es gibt zehnmal mehr Jungs als Mädchen, und die sind immer mindestens zu zweit. Etwa jeder sechste Zufalls-Partner ist ein Penis, dafür kann etwa ein Viertel aller Leute irgendwas besonderes, ist verkleidet, tanzt oder spielt Flöte.
Chatroulette ist deshalb wie ein Haufen verrückter Youtube Videos – der Unterschied ist, dass man mittendrin ist, denn die Leute reagieren, man kann sie anfeuern, man kann selber Grimassen schneiden, klatschen, Buh rufen oder lachen.
Nach einer weiteren Stunde habe ich mit einem Metal-Fan gemosht und mit einer Londonerin Tee getrunken, ich habe mich mit einem Dortmunder Kiffer über Marihuana- Handel unterhalten und wurde von einem älteren Herrn angegraben. Anders als Facebook und andere Social-Network-Seiten ist Chatroulette nicht dazu da, alte oder neue Freunde zu finden, es gibt keine Suchfunktion, keine Profile. Es geht um Smalltalk, nicht um Freundschaft, eine riesige, bizarre Party, und alle, wirklich alle, können kommen.
Mittlerweile ist es halb zehn, seit drei Stunden bin ich bei Chatroulette. Ich weiß nicht, ob ich im wirklichen Leben schon mal in so kurzer Zeit mit so vielen Leuten geredet habe. Ich könnte jetzt weggehen, in einen Club, in eine Bar. Stattdessen hol ich mir noch ein Bier. F9. Zack. Der Nächste, bitte.
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