Charles-Dickens-Verfilmung: Mehr als nur Routine
Schon wieder wurde Dickens' „Große Erwartungen“ verfilmt, diesmal von Mike Newell. Der Regisseur beweist diesmal überraschenden Mut.
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Braucht es einen Anlass, um einen Roman wie Charles Dickens' „Große Erwartungen“ wieder und wieder zu verfilmen? Vielleicht reicht als Grund ja aus, dass bisher noch keine Version das, was das Original so faszinierend macht, wirklich erfassen konnte. Zu denken, dass Mike Newell dem Ideal näher käme, hieße gleichwohl, zu große Erwartungen zu hegen, zählt Newell doch eher zu den Sachwaltern als zu den Innovateuren der Regiebranche.
Die Hoffnungen, die er 1994 mit dem Überraschungshit „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ auslöste, konnte der Brite, der zuletzt als Regisseur von „Harry Potter und der Feuerkelch“ oder „Prince of Persia“ in Erscheinung trat, nie wirklich erfüllen. Trotzdem ist der Film „Große Erwartungen“ mehr als bloß Literaturverfilmungsroutine geworden.
Der Dickens-Plot, wenn man so will, ist pure Soap: Ein Waisenjunge, der in ärmlichen Umständen bei seiner Schwester aufwächst und dessen beste Aussichten sich zunächst darauf beschränken, einmal den Beruf des Schmieds ergreifen zu können, kommt unversehens zu Geld und einem Leben als „Gentleman“ in London.
Verantwortlich für diesen Schicksalswandel ist ein anonymer Gönner. Der Waisenjunge muss unterschreiben, dass er keine Nachforschungen anstellt – und macht sich um so mehr Gedanken über die Identität des edlen Spenders. Der Weg zur Erkenntnis, seiner wie der des Zuschauers, ist gepflastert mit der Entdeckung von Rache-Intrigen, dunklen Familiengeheimnissen und weiteren Schicksalsschlägen. Dickens ging mit Plotpoints nicht gerade sparsam um.
Schauspielergrößen geben sich die Klinke in die Hand
Statt wie üblich die dichte Handlung auszudünnen, packen Newell und sein Drehbuchschreiber David Nicholls so viel hinein, wie eben noch in knapp über zwei Stunden Filmdauer hineingeht, ohne gänzlich unviktorianisch hektisch zu erscheinen. Das bedeutet auch, dass sich hier eine ganze Reihe von Schauspielergrößen gewissermaßen die Klinke in die Hand geben.
Da herrscht eine ungewohnt unwirsche Sally Hawkins als große Schwester den kleinen Waisen Pip an und im nächsten Moment taucht Ralph Fiennes dreckverschmiert als entflohener Sträfling aus den Sümpfen auf. Dass bald darauf Helena Bonham Carter eine Version ihrer bewährten Rolle als „Corpse Bride“, als sitzen gelassene Braut in einem Spukschloss gibt , in dem der Hochzeitskuchen auf der noch gedeckten Tafel zu Staub zerfällt, wundert auch nicht weiter. Als undurchsichtiger Rechtsanwalt Mr Jaggers schiebt schließlich Robbie Coltrane seinen Bauch durch die Kulissen.
Gegen solche Schwergewichte hat es Jeremy Irvine in der Rolle des erwachsenen Waisen Pip naturgemäß nicht leicht. Sein junger Naiver, der glaubt, sein Glück gemacht zu haben, um dann zu realisieren, dass es dafür mehr als Geld braucht, bleibt leider durchgehend blass. Aber es gehört zu den Vorzügen von Newells Inszenierung, dass das kaum auffällt. Farbe kommt hier weniger durch Dekor als durch den Mut zur Genrevielfalt ins Spiel. So mischen sich in „Große Erwartungen“ Melodrama, Horror und Satire auf so dick aufgetragene Weise, wie man es eben fast nur bei Dickens findet.
„Große Erwartungen“. Regie: Mike Newell. Mit Jeremy Irvine, Helena Bonham Carter u.a. Großbritannien/USA 2012, 128 Min.
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