Cem Özdemir über den Grünen-Höhenflug: "Wir sind keine Dagegen-Partei"
Eine Koalition mit der Union nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg sieht Grünen-Chef Özdemir nicht. Zu verhärtet seien die Fronten - auch beim Projekt "Stuttgart 21".
taz: Herr Özdemir, der momentane Höhenflug der Grünen erinnert an die FDP vor der jüngsten Bundestagswahl. Kann Ihre Partei diese irrationalen Hoffnungen überhaupt erfüllen?
Cem Özdemir: Irrational war das Steuersenkungsversprechen der FDP. Wir verfallen nicht in einen Höhenrausch, weil wir auf die Gesamtheit der Probleme schauen und an unseren Konzepten arbeiten. Das ist doch gerade der Grund für die Unterstützung.
Die extreme Steigerung Ihrer Umfragewerte hat doch nichts damit zu tun, dass alle auf einmal grüne Inhalte toll finden. Eher sind Sie zu einer Projektionsfläche geworden.
geboren 1965 in Bad Urach, Sozialpädagoge. Seit 1981 Mitglied der Grünen, von 1989 bis 1994 im Landesvorstand von Baden-Württemberg. 2004 bis 2009 Abgeordneter im EU-Parlament, seit 2008 Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Umfragewerte haben auch mit Schwarz-Gelb zu tun. Diese Lobbypolitik der Kanzlerin und ihres Kabinetts wäre selbst in der Ära Kohl kaum vorstellbar gewesen: für die Pharmalobby, für Privatversicherte, für die vier großen Stromkonzerne et cetera. All das ärgert offensichtlich auch die Wählerschaft von CDU, CSU und FDP. Das merken wir, wenn selbst Handwerker zu uns kommen und sagen, sie wehren sich dagegen, wie sie die Union für blöd verkauft.
Sie haben so viel Zustimmung, dass die Nachfrage nach Grünen das Angebot übersteigt. Wie wollen Sie die Landtage personell besetzen?
Wir haben dieses Problem. Aber unsere Leute sind sehr gut, so dass ich mir wenig Sorgen machen muss. Außerdem hängen Angebot und Nachfrage bekanntlich zusammen, wir haben so viel Nachwuchs wie noch nie. Ich will aber nicht verhehlen, dass wir eine Menge Baustellen haben und dass das Umfragewachstum das der Mitglieder übersteigt. Vor allem arbeiten wir mit demselben Apparat wie bei 10,7 Prozent nach der Bundestagswahl, aber bei extrem steigenden Anforderungen.
Sie profitieren von der Wut auf Stuttgart 21. Surfen die Grünen auf dem Protest gegen den Bahnhof einfach mit?
Der Versuch der Befürworter, den Stuttgart-21-Protest als Anti-Bahn-Protest zu brandmarken, ist gescheitert. Stuttgart 21 ist kein Bahnprojekt, sondern eines von großmännischen Politikern, die die Bahn zuvor systematisch kaputtgemacht haben. Die Leute sagen zu Recht: Dann kann man doch mit einem Bruchteil des Geldes den bestehenden Bahnhof modernisieren, und die Strecke nach Ulm kann man ausbauen, ohne dass man dafür eine Neubaustrecke baut mit einer Steigung, die aufgrund der Steigung für den Güterverkehr nutzlos ist. Das Problem ist, dass man so tut, als hätte man es mit einer dummen Bevölkerung zu tun.
Also doch: Die Partei der Grünen stellt sich populistisch gegen "die Politik".
Wir sind doch keine Dagegen-Partei, bloß weil wir auf die Kostenexplosion und die massiven geologischen Risiken von Stuttgart 21 hinweisen. Ich bin für eine Modernisierung des Kopfbahnhofs, für einen viergleisigen Ausbau der Rheintalbahn, den Ausbau der Strecke Mannheim-Frankfurt. Ich bin für Netze, die wir zum Ausbau regenerativer Energien brauchen, damit der Strom von der Nord- und Ostsee zu den Verbrauchszentren kommt. Wir sind nicht technikfeindlich, wir sind nur gegen Projekte auf Betonfüßen, die sich als schwachsinnig erwiesen haben.
Bislang ist die Alternative zu S 21, Kopfbahnhof 21 oder K 21, nur eine Projektidee.
Dafür können Sie die Gegner von Stuttgart 21 nicht verantwortlich machen. Die Bahn hat auf Druck der Politik einseitig auf eine Karte gesetzt und Alternativen nicht ernsthaft erwogen.
Aber man kann Ihnen den Vorwurf machen, dass Sie, sobald es konkret wird, für etwas sind, das man nicht einfach so umsetzen kann.
Das stimmt nicht. Man könnte ohne Weiteres für eine Modernisierung der bestehenden Strecke sein. Die Franzosen haben vor Straßburg auf ihrer TGV-Strecke bereits modernisiert. Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Da kann man, wenn man über die Magistrale spricht, noch viel tun.
Schön, aber wie wollen Sie denn Stuttgart 21 verhindern?
Lassen Sie uns die Schlichtungsgespräche und die Landtagswahl abwarten. Wenn wir eine Mehrheit haben, dann werden wir die Bevölkerung fragen. Wenn die Mehrheit Stuttgart 21 ablehnt, dann kommt es nicht. Wenn sie dafür ist, dann kommt es eben.
Läuft es in Baden-Württemberg wie in Hamburg beim umstrittenen Kohlekraftwerk Moorburg? Nach der Wahl bemerken Sie plötzlich, dass sich das Projekt nicht mehr stoppen lässt?
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung Nein sagt, dann ist das Projekt tot und begraben. Bis dahin setzen wir auf den Schlichter Heiner Geißler.
Wenn die Bahn weitermacht, dann werden die Kosten für einen Ausstieg zu hoch sein.
Die Strategie des Bahnchefs ist klar: so viele Aufträge vergeben wie möglich und dann sagen, ein Ausstieg sei zu teuer. Heute geht das noch. Das Szenario, es würde 1,4 Milliarden Euro kosten, hat sich als falsch erwiesen. Es sind maximal 500 Millionen Euro, die Rückabwicklung des Grundstücksverkaufs zwischen Bahn und Stadt Stuttgart sind ja keine echten Kosten, sondern eine Umbuchung öffentlicher Gelder. 500 Millionen sind eine Summe, die ärgerlich ist, aber angesichts der Kosten für den Tiefbahnhof und die Neubaustrecke von bis zu 18 Milliarden Euro, wie sie unabhängige Gutachter prognostizieren, mehr als vertretbar. Zumal dadurch viele andere Projekte verhindert werden. Stuttgart 21 ist ein Kannibale.
Ihr Grünen-Spitzenkandidat in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, war immer für Schwarz-Grün. Kann er auch Rot-Grün?
Auch er entscheidet nach Inhalten. Wenn rechnerisch eine Regierungsbeteiligung möglich sein sollte, dann mit der Partei, mit der wir die meiste grüne Politik umsetzen können. Das ist ganz klar die SPD. Die CDU hingegen verhärtet und radikalisiert sich. Das erklärt, warum sich gerade wertkonservative Wähler in Scharen von der Union abwenden und sagen: Die Grünen kann man wählen. Das haben wir auch Winfried Kretschmann zu verdanken, der diesen Acker seit Jahren pflügt und unser Profil maßgeblich geprägt hat.
Mit der CDU regieren Sie in Stuttgart also auf keinen Fall?
Ich sehe nicht, wie das gehen soll, so schnell, wie die Union sich von unserer Politik entfernt.
Falls Sie in Stuttgart bald mitregieren, erben Sie die Neuverschuldung von 4,5 Milliarden Euro. Laut Schuldenbremse in der Landesverfassung müssen die wieder abgebaut werden. Wie soll das gehen?
Es wird beinhart werden. Die Politik muss sich auf Investitionen in wenigen Hauptfeldern konzentrieren: beim Klimaschutz und bei der Bildungsgerechtigkeit. Auch die Länderhaushalte werden aber nicht zu sanieren sein, wenn wir die Einnahmeseite nicht verbessern. Wir werden den Spitzensteuersatz erhöhen müssen, eine Vermögensabgabe zeitlich befristet einführen, die Erbschaftssteuer reformieren und ökologisch schädliche Subventionen in Milliardenhöhe streichen.
Die Grünen sind in der Integrationsdebatte merkwürdig still. Haben Sie nichts zu sagen?
Natürlich, aber meine Meinung ist einigen offenbar nicht schwarz-weiß genug. Diese Debatte kann man aber auf intellektuell redliche Art nur mit Grautönen führen. Ich kann nicht sagen: Hier ist der arme Migrant und dort die böse deutsche Mehrheitsgesellschaft. Andererseits weiß ich zu gut, was Diskriminierung und Benachteiligung sind, als dass ich wie manche sagen könnte: Die bösen Migranten sind an ihrer Lage allein schuld.
Seehofer verlangt den Einwanderungsstopp für Menschen aus "fremden Kulturkreisen".
Während sein Gesundheitsminister Söder in die Vereinigten Arabischen Emirate reist und für den Medizinstandort München wirbt, wo sich reiche Araber operieren lassen, während ihre verschleierten Frauen zum Shoppen begleitet werden. Da passt es dann mit dem Kulturkreis und der Burka offenbar. Es geht Seehofer nicht um Inhalte, sondern nur darum, Stimmungen zu bedienen oder zu schaffen.
Gilt das auch für Familienministerin Schröder, die über "Deutschenfeindlichkeit" unter Jugendlichen klagt?
Natürlich muss man diese Dinge ansprechen. Es gibt ja keinen Rassismus erster und zweiter Klasse. Wir dürfen auch nicht wegschauen, wenn Angehörige von Minderheiten selbst andere diskriminieren. Wir müssen in der Lage sein, im Notfall gegen die Familie und gegen ein sozial und kulturell isoliertes Milieu zu erziehen. Wir müssen die Schulpflicht durchsetzen und ein flächendeckendes Angebot von Kita-Plätzen schaffen. Mit mir kann man über eine Kindergarten-Pflicht reden. Helfen würde auch ein Ende der Kettenduldungen. Wer Menschen einen gesicherten rechtlichen Status gibt, ihnen die Möglichkeit eröffnet zu arbeiten, der hilft den Lehrern, Sozialpädagogen, Erziehern und überforderten Eltern.
Bringt ein Punktesystem etwas, das die berufliche Eignung von Einwanderern messen soll?
Wir fordern schon lange ein Punktesystem. Es ist ein guter Weg, um die notwendige Einwanderung von Fachkräften so zu gestalten, dass sie mit klaren Kriterien transparent und nachvollziehbar verläuft, auch für diejenigen, die dafür gewonnen werden sollen. Die FDP bewegt sich hier ja offenbar etwas, bei der Union sehe ich das aber nicht.
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