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Carolina Schwarz Der WochenendkrimiEin „Tatort“ über Sex, Sucht und eine seichte Verabschiedung

Ich bin in einer dieser Familien aufgewachsen, in der gemeinsames „Tatort“-Gucken sonntägliches Pflichtprogramm war. Fast jedes Wochenende in meiner Teenagerzeit endete damit, dass ich mich mit meinen Eltern und Geschwistern pünktlich vor dem Fernseher einfand. Als ich mit 18 von zu Hause auszog, nahm ich das Ritual mit: Statt auf bequemen Sofas und mit überbackenen Fladenbroten auf dem Tisch, traf ich mich nun auf eine Kippe und Bier mit Kom­mi­li­to­n*in­nen in Dresdens Studi-Bars, um den Krimi zu gucken. Ich habe also unzählige Folgen gesehen, erinnern kann ich mich nur an die wenigsten. Der Rest verschwimmt zu einer grauen Masse aus toten Frauen und mordenden Männern.

Doch es gibt Krimis, die mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wie die Folge, in der Lars Eidinger als Stalker sich heimlich in Wohnungen von jungen Frauen einrichtet. Oder die, in der an Tollwut erkrankte Männer ums Leben kommen. Was diese „Tatorte“ eint, ist, dass es alles Folgen aus Kiel mit Kommissar Borowski (Axel Milberg) sind. Denn obwohl die Drehbücher aus der Feder verschiedener Autor_innen (drei Filme sind von dem schwedischen Bestsellerautor Henning Mankell geschrieben) stammen, haben sie allesamt eine andere Erzählweise als die übrigen „Tatorte“. Sie sind irgendwie mysteriöser und düsterer, arbeiten mit Thriller- und Horrorelementen und nicht selten spielt Sex bei den Mordfällen eine relevante Rolle.

Auch in dem aktuellen Film finden sich diese typischen Borowski-Elemente wieder. Der zugegeben etwas wilde Soundtrack von Haiyti über Blümchen bis zu Andrea Berg gibt die Themen für den Film vor: Liebe, Lust und Sex.

Der Soundtrack von Haiyti über Blümchen bis Andrea Berg gibt die Themen für den Film vor: Liebe, Lust und Sex

Passend dazu beginnt der Kriminalfall auf einer Sexparty: Die 40 Jahre alte Versicherungsangestellte Andrea Gonzor hat zum Gangbang geladen, sechs Männer sind gekommen. Der Sex verläuft einvernehmlich, doch am Ende des Abends liegt Andrea tot auf ihrem Bett.

Borowski und seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) beginnen zu ermitteln und sind schnell umgeben von Menschen, die liebes- und sexsüchtig sind. Menschen, die sich auf Parkplätzen mit Unbekannten zum Sex verabreden, die andere bestrafen, wenn sie in einer glücklichen Liebesbeziehung sind, die wegen der Sucht die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Wie realistisch die Darstellung der Süchtigen ist, sei an dieser Stelle einmal außen vor gelassen, schließlich geht es im „Tatort“ nicht darum, Realität abzubilden, sondern eine spannende Geschichte zu erzählen.

Und Spannung gibt es auf jeden Fall. Sie entsteht nicht durch die Frage, wer eigentlich Andrea getötet hat (wer die Regeln von „Tatort“ kennt, hat es schnell durchschaut), sondern durch die Stalkerin, die während der Ermittlungen in Borowskis Leben tritt. Nele (Laura Balzer) ist auch suchterkrankt und versucht auf perfide Weise, Zugang zu Borowskis Leben zu finden. Auch wenn ihr Schauspiel stellenweise etwas zu übertrieben daherkommt, erschrecke ich doch jedes Mal, wenn sie unangekündigt vor einer Terrassentür auftaucht oder bedrängende Nachrichten schreibt.

Auch, wenn „Tatort“-Gucken schon lange kein Ritual mehr in meinem Leben ist, hat sich das Einschalten bei dieser Folge gelohnt. Allein deswegen, weil es die vorletzte mit Borowski ist. Ein langsamer Abschied von einem Kommissar, der nicht mit merkwürdigen Spleens, sondern mit seiner unerschütterlich ruhigen Art in Erinnerung bleiben wird.

Kiel-„Tatort“: „Borowski und das hungrige Herz“, 20.15 Uhr, ARD und in der Mediathek

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