Capra der Jahrhundertwende

■ Vom „Sinn und Wert“ des Nobelpreises. Zur Rezeptionsgeschichte Rudolf Euckens

Jens Aden

Wer aus Anlaß der alljährlichen Verleihung des Nobelpreises in Stockholm und Oslo in den Annalen der Nobelstiftung blättert, stößt neben ehrfurchtgebietenden Preisträgern immer wieder auf Namen, die Kopfschütteln, Verwunderung oder das unbehagliche Gefühl mangelnder Allgemeinbildung des Interessenten hervorrufen. Einer unter vielen: Rudolf Eucken. Wer noch nie etwas von diesem Mann gehört hat, sollte sich nicht allzu viel daraus machen.

In seiner Geburtsstadt Aurich hält ihn die Mehrzahl der Einwohner für einen früheren Bürgermeister oder einen Heimatdichter, und der Name ist dort auch nur deshalb geläufig, weil er auf einem Straßenschild in der Innenstadt prangt. Ansonsten gibt es aber keine Hinweistafel an diesem Schild, keine Randbemerkung im Fremdenverkehrsprospekt und keine biographische Notiz am Geburtshaus, die den Bürgern oder Besuchern des hübschen ostfriesischen Residenzstädtchens über seinen Träger Auskunft geben könnten. Zum Beispiel darüber, daß es sich bei diesem Sohn ihrer Stadt um einen einst außerordentlich populären, wenn auch umstrittenen Philosophen der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Gründung der Weimarer Republik handelt, dessen Werke ganze Regalwände füllen können und der zudem noch im Jahre 1908 der zweite deutsche Literaturnobelpreisträger wur- de.

Da wurde also vor nunmehr einundachtzig Jahren eine Preisverleihung vorgenommen, die manchen an der Urteilsfähigkeit der Jury zweifeln lassen mag. Schließlich erwartet man von einem Nobelpreisträger mehr als nur zeitgebundene Wirkung und begrenzten Bekanntheitsgrad. Wie steht es da mit Professor Eucken aus Jena; was ist heute noch von ihm übrig? Neugierig habe ich mich auf die Spurensuche gemacht. Und große und kleine Überraschungen erlebt.

„Vor zehn Jahren gab es Eucken meterweise in den Regalen hier“, erzählt mir ein Antiquar in Göttingen. „Jetzt gehen die Bücher sofort wieder, wenn mir mal welche angeboten werden. Aber auch das passiert heute seltener.“ Ich bin erstaunt. Woran das denn liege? - „Keine Ahnung. Der scheint wieder populär zu werden.“

Auch in der einen oder anderen Bibliothek stoße ich auf Hinweise, daß Eucken noch nicht ganz vergessen ist. Seine Bücher, zum Teil sechzig Jahre lang nicht eingesehen und ausgeliehen, weisen manche Einstempelung aus den siebziger und achtziger Jahren auf. Während es in der Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft vor allem Auricher Heimatforscher sind, die sich Aufschlüsse über die hier verbrachte Kindheit Euckens aus seinen Lebenserinnerungen erhoffen, ist es in den großen Städten und an den Universitäten mancher Philosophiestudent, der dem Nobelpreisträger seiner Zunft ein paar amüsiert-amüsante Augenblicke seines Studiums widmet, oder ein Pensionär, der verlorengegangene Jugendlektüre auffrischen will.

Schließlich sendete sogar das deutsche Fernsehen 1982 ein Porträt des Philosophen, in dem der Journalist Alexander von Cube den patriotisch-konservativen Eucken gleich zu einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus zu machen versuchte. Aber darüber hinaus, wen interessiert, wen reizt dieser Schüler Lotzes, Kollege Nietzsches in Basel und Lehrer Max Schelers heute noch?

Zu seinen Lebzeiten galt Eucken besonders in gebildeten Schichten des Bürgertums als ein Prophet in düsteren Zeiten. Entfremdung des Menschen von der Natur und vom Seelenleben, Vorherrschaft der Naturwissenschaften und materialistisch -positivistischer Denkweise, zunehmende Technisierung und nicht zuletzt politische und wirtschaftliche Unsicherheiten machten Angst vor und um die Zukunft. Euckens Philosophie schien neue Wege anzubieten. „Diese Philosophie“, so der Publizist Dr.Jürgen Byl, „bestand auf die knappste Formel gebracht darin, daß mit einer großen geistigen Anstrengung die verlorengegangene Einheit von Fühlen und Denken wiederherzustellen sei.“ Ein Aufruf zur Besinnung und Umkehr also, zur geistigen Vertiefung des Lebens. Ein Capra der Jahrhundertwendezeit. New Age des Jugendstils. Ist es vielleicht das, was Eucken heute wieder ins Blickfeld rückt? Sind es Titel wie Erkennen und Leben, Menschen und Welt oder Der Sinn und Wert des Lebens, die der Generation der Postmoderne neue Perspektiven verheißen? Wer sind diese Insider der Eucken-Renaissance?

Nun fragen die meisten Antiquare ihre Kunden nicht nach deren Personalien, aber von Hamburg bis München ist man sich einig: Es sind Akademiker, vor allem Amerikaner. In Tübingen hat im letzten Sommer ein amerikanischer Rucksacktourist fast einen halben Meter Eucken mitgenommen. „Dabei sprach der kaum ein Wort Deutsch“, berichtet man mir.

Die Eucken-Rezeption hat im anglo-amerikanischen Sprachraum in der Tat eine größere Tradition. Hierzulande bemängelten die gelehrte Fachwelt und die Intellektuellen seiner Zeit unzureichende Wissenschaftlichkeit und das Fehlen eines geschlossenen Gedankengebäudes, in England und Amerika hingegen überboten sich die Universitäten mit Einladungen zu Vorträgen und Angeboten für Gastprofessuren, die wissenschaftlichen Verlage konkurrieren um die Publikation von Eucken-Übersetzungen und -Interpretationen. So mancher englische Doktor der Philosophie machte sich um Euckens Popularisierung und Verteidigung gegen Kritik mehr als verdient. Ein Dr.Jones aus Cardiff schreibt 1912 in seiner Einführung in Euckens Schaffen: „Die gewisse Lässigkeit im Gebrauch von Termini und eine leichte Unexaktheit des Ausdrucks, die manchmal auftauchen, dürfen natürlich nicht übertrieben werden. (...) Man muß bedenken, daß es schwierig ist, die Fruchtbarkeit eines Propheten mit pedantischer Exaktheit zu verbinden, und daß man von einem inspirierten und profunden Philosophen nicht erwarten kann, daß er viel Zeit für verbale Nettheiten verwendet.“

Kein Wunder, daß sich unser Literaturnobelpreisträger von den Engländern besser verstanden fühlte als von den Deutschen mit ihrem „unglückseligen Intellektualismus“, gilt ja bekanntlich gerade der Prophet nichts im eigenen Lande, und sei er noch so national gesinnt. Kein Wunder, daß die honorige Encyclopedia Britannica Eucken seit je mit längeren Artikeln würdigte als Brockhaus oder Meyer.

Leeds. Austicks‘ Second Hand Bookshop. Die freundliche Verkäuferin verweist mich an Tommy, einen regelmäßigen Besucher des Ladens. Er ist autodidaktischer Experte für deutsche Philosophie. Der Name Eucken versetzt ihn in lebhafte Bgeisterung. Er erklärt mir sämtliche Unterschiede zwischen allen zu jener Zeit wirkenden Philosophen, die der Lebensphilosophie und dem Idealismus nahestanden, die ich zum Teil nicht mal vom Namen her kenne. Und mit sichtlicher Genugtuung verkündet er dann, er habe es ja schon lange gewußt, Nietzsche und Schopenhauer seien tot, aber nun seien Simmel, Bergson und Eucken wieder auf dem Vormarsch (in dieser Reihenfolge sagt er das!). Zwar findet auch er, der für seinen warmen und eindringlichen Stil von Stockholm Dekorierte schreibe ein wenig konfus und schwülstig, aber schließlich zähle die Idee. Dann zieht er, ohne lange zu suchen, eine Übersetzung von Euckens Hauptwerk aus dem Regal, eine Philosophiegeschichte. Die sei erst gestern reingekommen und wirklich billig. In Liverpool winkt Mr.Waterton von Waterton's Bookshop gleich ab, als ich den Namen Eucken erwähne. Er bietet mir aber an, mich auf die Interessentenliste zu setzen, auf Platz Zehn. Was denn das für Leute seien auf den Plätzen Eins bis Neun? Alle möglichen, erklärt Mr.Waterton, vor allem Lehrer und Studenten.

Die gebildeten Mittelschichten, geht es mir durch den Kopf. Wie anno dazumal. Die waren es ja auch gewesen, die Euckens Wahl zum Träger des Nobelpreises euphorisch feierten. Sie waren es, die die Feldausgaben seiner Werke mit den patriotischen Vorworten im Schützengraben lasen und sich 1920 aufgrund einer großangelegten Werbekampagne von Euckens Ehefrau Irene in Scharen nach dem Vorbild amerikanischer Eucken-Associations zum Eucken-Bund zusammenschlossen, der sich als Vereinigung aller nach idealistischer Denk- und Lebensweise strebenden Geister verstand, und in diesem Sinne durchaus auch als undogmatisches Pendant zur Anthroposophischen Gesellschaft Rudolf Steiners.

Ausgerechnet in Cambridge begegne ich dem ersten Antiquar in England, der Rudolf Eucken nicht kennt. Bei ihm habe ich einige englische Ausgaben entdeckt, laut Exlibri angekauft vom Westminster College. An deutschen Philosophen kennt er nur Kant, Hegel und Wittgenstein, die verlangen die hiesigen Studenten immer. Bei dem Wort „Nobelpreis“ wird er zumindest hellhörig. Aber der für Literatur an einen Nicht-Literaten (ich erspare mir den Hinweis auf Churchill)? Da scheine die Wahl Euckens wohl ein Flop gewesen zu sein. Nun, er befindet sich in bester Gesellschaft. Auch im Jahre 1908 wurde die Preisverleihung von manchem Fachmann und manchem Kritiker als „vollkommenes Versagen“ des Nobelkomitees kommentiert.

Eines aber steht fest: Die Entschließung für Rudolf Eucken ist und bleibt ein Zeitdokument, das die geistig-kulturelle Atmosphäre der ersten zwei Dekaden unseres Jahrhunderts treffend charakterisiert. Und ab und zu erinnert man sich ja auch heute wieder der einstigen Popularität Euckens.

Die Stadt Göttingen, Euckens erste Station in seiner akademischen Laufbahn, hat erst vor wenigen Jahren eine Straße in einem an verschiedene minder bekannte Wissenschaftler erinnernden Neubaugebiet nach ihm benannt. Jahrzehnte später zwar und weniger zentral gelegen als in Aurich. Aber immerhin mit Erläuterungstafel.

Jens Aden