Burn-out als Chance: Lohnarbeit am Höllenfeuer
Viele klagen über zu wenig Zeit. Doch bei der Frage, woher das kommt, wird es schnell eng, meint unser Kolumnist.

I ch habe keine Zeit: für Steuererklärung, Haushalt und Garten – eigentlich auch nicht so recht für diesen Text und tragischerweise schon gar nicht für meine Freundinnen und Freunde. Nun verhält es sich aber ja so, dass Jammern nicht hilft, erst recht nicht bei diesem Thema. Weil’s ja allen so geht.
Man kommt zweimal täglich darauf zu sprechen, weil keine:r zurückstehen will beim großen Überlastungswettstreit, oder einfach, weil schon wieder wer die geistreiche Beobachtung teilen möchte, dass man beim Verabreden heutzutage ja frühestens über Termine in zwei Monaten rede. Ich frage mich manchmal schon, zu welchen Gelegenheiten die etwa zweihundert Variationen dieses Gesprächs eigentlich stattgefunden haben – weil wir uns ja eigentlich nie sehen.
Es laufen noch ein paar verwandte Monologe in Dauerschleife, die Sie bestimmt kennen: Zum Beispiel, dass jemand vergessen habe, wie sich Langeweile anfühlt. Oder dass man als Student:in früher kein Geld für dieses oder jenes Hobby hatte und heute, wo man es sich leisten könnte, keine Zeit mehr. Witze gibt’s auch: „Keine Zeit und trotzdem da“, wurde ich neulich reimend von der Seite anagitiert: „Freiberufler-Antifa!“ Oder: „Tschüss, es war ein toller Abend – wir sehen uns dann im Herbst. Höhö!“
Mich nervt das zunehmend: bei mir selbst, noch etwas mehr aber bei allen anderen Menschen. Nicht nur weil das Thema langweilig wird, sondern auch weil diese manische Verschiebung auf die Quantität ein mir doch wichtiges Problem verschleiert: dass es sich bei unserem gesellschaftlichen Tun auf der Arbeit im Wesentlichen nämlich um dumme Scheiße handelt. Ich meine nicht nerviges Staubsaugen, sondern Dinge, die anderen das Leben schwerer machen, die Welt weniger wohnlich oder das Klima kaputt. Wie viele Wochen- und Überstunden uns das nun genau beschäftigt, scheint mir dabei eher ein Nebenschauplatz zu sein.
Nicht fair, aber wahr
Klar spricht hier mal wieder das Privileg: Ich kann es mir leisten, eine absurd schlecht bezahlte Arbeit zu verrichten, die ich dafür (meistens) mag und die ich (manchmal) sogar sinnvoll finde. Und es ist darum auch nicht sonderlich solidarisch, jemandem vorzuwerfen, seine oder ihre Lohnarbeit mache die Welt aktiv schlechter und dann zu sagen, dass man sich da ja nicht auch noch beklagen müsse. Fair ist das nicht. Aber stimmen tut’s trotzdem.
Mit dem Leben auf dem Land, um das es hier an dieser Stelle ja eigentlich geht, hat das erstaunlicherweise viel weniger zu tun, als ich erst dachte. Zwar wirken der PR-Klitschen-Psychoterrorist oder die Prozess-verschlankende-Kündigungsexpertin meist in der Metropole – aber auch hier draußen fühlen sich Menschen von Tätigkeiten gestresst, die sie besser sein lassen würden. Ein (hoffentlich wenigstens nur selbsternannter) „Vollstrecker“ der Wald und Wiesen Sparkasse hat mir vor einer Weile mal am Rande eines Elternabends im Kindergarten erzählt, er brauche dringend Urlaub. Das fand ich auch, am besten für immer.
Wahrscheinlich sind auch Polizist:innen echt müde nach Abschiebungsnachtdiensten, oder die Spargelsklaventreiber kriegen’s irgendwann im Kreuz. Das kann schon sein.
Wie gesagt: Alle müssen irgendwie Geld verdienen und die wenigstens können sich den Luxus moralischer Erwägungen auf Dauer leisten. Aber vielleicht ist das längst epidemisch gewordene Geschwätz von knapper Zeit und beruflicher Überlastung eine gar nicht so schlechte Gelegenheit, doch mal nachzuhaken, was jemand denn eigentlich so macht den ganzen Tag. Ob man zum Beispiel wem geholfen hat bei irgendwas, oder wieder nur ein Leben ruiniert. Das macht ja vielleicht auch einen Unterschied fürs eigene Wohlbefinden und diesen Stress, von dem immer alle reden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationale Strafverfolgung
Ein Schlag gegen das Völkerrecht
Siegfried Unseld und die NSDAP
Der geheime Schuldmotor eines Verlegers
Solarenergie wächst exponentiell
Das Zeitalter der Sonne wird keiner mehr stoppen
Schwarz-rote Koalition
Als Kanzler muss sich Friedrich Merz verscholzen
Pro-palästinensischer Aktivist
US-Gericht erlaubt Abschiebung von Mahmoud Khalil
Schwarz-rote Koalition
Was befürchtet wurde …