Bundesweite Aktionswoche: Berlins vergessene Kinder

Bei der Suchtprävention liegt der Fokus auf Erwachsenen, dabei brauchen auch Kinder suchtkranker Familien Hilfe.

Kind sitzt auf der Couch, hat ein Buch auf dem Schoß. Die Füße sind scharf, der Rest verschwommen

„Viele Kinder sind Co-Abhängig“ – sie brauchen Hilfe Foto: Laura Fuhrmann/Unsplash

BERLIN taz | Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie mit suchtkranken Eltern. In Berlin sind rund 90.000 Kinder betroffen, das entspricht etwa jedem siebten Kind in der Hauptstadt. Das Suchtrisiko ist bei ihnen sechsfach höher als bei anderen Kindern. Außerdem neigen sie vermehrt zu psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Nach Ansicht von Sozialverbänden gibt es für Heranwachsende, die bei oftmals alkohol- und drogenkranken Eltern leben, zu wenig Hilfsangebote – aber auch zu wenig Aufmerksamkeit.

„Sie sind die vergessenen Kinder“, kritisierte Henning Mielke, Vertreter von Nacoa Deutschland, zum Auftakt der elften bundesweiten Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien. Die Kinder seien oft sehr unauffällig, „stille Helden“, die den Alltag meistern und für ihre eigenen Eltern nicht selten die Verantwortung übernehmen, auch um sie zu schützen.

Initiiert wird die Aktionswoche vom Berliner Verein Nacoa (National Association for Children of Addicts), der die Interessen von Kindern aus Suchtfamilien vertritt, und dem in Hamburg ansässigen Verein Such(t)- und Wendepunkte. Bundesweit sind bis Samstag 120 Veranstaltungen in mehr als 60 Städten geplant.

Am Montagmorgen stellen VertreterInnen der Aktionswoche vier neue Projekte für das Land Berlin vor, die vom Senat mit einer halben Million Euro zwei Jahre unterstützt werden sollen. Der Bundestag hatte sich 2017 dem Thema angenommen, eine extra eingerichtete Arbeitsgruppe sollte sich Lösungen finden, zur Hilfe von Kindern mit psychisch- und suchterkrankten Eltern.

500.000 Euro reichen nicht

Der Abschlussbericht liegt nun vor, aber die Finanzierung der Projekte sei immer noch nicht ausreichend geklärt, kritisierten die VertreterInnen. „Der Bericht ist ein Minimalkompromiss“, so Mielke. Er appellierte an den Bundestag, sich intensiver mit Finanzierungsfragen zu beschäftigen, um so langfristig Angebote zu unterstützen.

Anfang des Monats verkündete Familienministerin Franziska Giffey (SPD) das Thema sei Teil ihrer Agenda. Sie plane, dass Kindern auch ohne Antrag beim Jugendamt geholfen werden könne – mit der Einführung eines Rechtsanspruchs auf Alltagsunterstützung. Eltern, die etwa eine Kinderbetreuung oder Haushaltshilfe bräuchten, dürften sich statt ans Jugendamt auch an eine Beratungsstelle oder ein Familienzen­trum wenden.

Giffeys Unterstützung wird von den VertreterInnen der Aktionswoche zwar begrüßt, aber damit sich die Lage von Betroffenen wirklich verbessere, müssten Taten folgen, so Mielke. Es reiche nicht aus, den Kindern einen elternunabhängigen Anspruch auf Beratung einzuräumen.

Denn: Ohne richtige Unterstützungsangebote nütze das nicht viel. „Die Kinder brauchen dringend eine verlässliche Hilfe, denn sie tragen selbst ein hohes Risiko suchtkrank zu werden“, sagte Barbara John, Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin. „Viele Kinder sind Co-Abhängig“, warnt John. „Wie lange kann ein Kind das aushalten ohne richtige Hilfe?“ Bundesweit gibt es nur etwa 200 spezialisierte Angebote – für drei Millionen betroffene Kinder sei das zu wenig. Auch mit den geplanten 500.000 Euro Unterstützung aus dem Senat seien viele Projekte unterfinanziert.

Die vier neu geplanten Projekte sind unterschiedlich ausgerichtet. Nacoa plant beispielsweise den „Fluffi-Klub“, der die psychische Gesundheit von Kindern im Vorschulalter verbessern soll. Fluffi ist eine Handpuppe, die – ohne dass die Wörter „Drogen“ oder „Sucht“ fallen –, Kindern Problemgeschichten erzählen soll, mit denen sie sich identifizieren können. Die Puppe soll den Kindern spielerisch Lösungen zeigen für den Umgang mit Wut, Trauer oder Überforderung – und sie ermutigen, Selbstfürsorge zu entwickeln sowie jederzeit ihre ErzieherInnen anzusprechen bei Problemen. Diese sollen im Rahmen von Workshops sensibilisiert werden, um auch bei Suchtproblemen Unterstützung zu vermitteln.

Sucht Rund 2,65 Millionen Kinder leben aktuell in Deutschland mit alkoholkranken Eltern zusammen. Circa 40.000 bis 60.000 Kinder leben bei drogenabhängigen Eltern. Kinder suchtkranker Familien (Children Of Addicts) sind die größte bekannte Risikogruppe für eine spätere eigene Suchterkrankung und sind anfällig für Entwicklungsstörungen.

Förderung Im Vergleich hängt Berlin in der Förderung von Kindern suchtkranker Eltern hinterher. Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz haben weniger Betroffene, geben dafür aber mehr Landesmittel für Projekte freier Träger aus.

Schutz Die Kinder aus den Familien zu nehmen, ist oft die letzte Variante. Vorrangig wird auf Unterstützung und Beratung suchtkranker Eltern gesetzt. Hilfsangebote für Kinder kommen zu kurz. (bin)

„Nicht Schuld der Kinder“

Nina Pritzens, Geschäftsführerin der Vista Drogen- und Suchtberatung, stellte das Projekt einer mobilen Familienberatung vor. Scham und Fehleinschätzen würden suchtkranke Eltern oft daran hindern, beispielsweise den Gang zum Jugendamt anzutreten, um sich Hilfe zu holen. Auch weil sie Angst haben, die Kinder können ihnen weggenommen werden.

Die mobile Beratung soll da ansetzen, Hilfepläne erstellen und weitere Suchthilfeangeboten vermitteln, wie eine Therapie, Entzug oder psychosoziale Betreuung. „Eltern lernen dort, ihre Erkrankung, die kein Tabuthema sein sollte, den Kindern erziehungsgerecht mitzuteilen“, sagte Pritzens. Sucht müsste entstigmatisiert werden. „Es ist ganz wichtig, dass die betroffenen Kinder erleben, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn die Eltern suchtkrank sind.“ Das gleiche Projekt wird vom Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin durchgeführt, die beiden Vereine teilen sich nur auf unterschiedliche Bezirke auf.

Das vierte Angebot kommt von der Diakonie Stadtmitte und ist ein Patenschaftsprojekt „Vergiss mich nicht“, bei dem Kinder eine stabile Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie aufbauen sollen, um ein Vorbild zu haben und Schutz zu bekommen, falls ihr Wohl in Gefahr sei.

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