Bundestag zu Spätabtreibung: Entscheidung aus tiefer Not
In der Bundestagsdebatte plädieren Abgeordnete dafür, dass Frauen vor der Abtreibung eines behinderten Kindes nach der 12. Woche besser beraten werden.
Die Bundestagsdebatte über Spätabtreibungen mit dem "Oldenburger Baby" zu beginnen, hat einen unangenehmen Beigeschmack: von Eltern, die ihr behindertes Kind sterben lassen wollten. Johannes Singhammer (CSU) steht vor dem Parlament und erinnert die Abgeordneten an den kleinen Tim.
Tim hat das Down-Syndrom und überlebte vor 11 Jahren seine eigene Abtreibung. Die Eltern hatten sich nach der Diagnose der Behinderung für einen Abbruch in der 25. Woche der Schwangerschaft entschieden - dann hatte das Kind nach der künstlich eingeleiteten Geburt doch angefangen zu atmen. Heute lebt Tim bei Pflegeeltern. "Wir müssen behindertes ungeborenes Leben besser schützen", sagte Johannes Singhammer im Parlament.
Der Bundestag hat am Donnerstag über mögliche Neuregelungen für Spätabtreibungen debattiert. Gleich fünf Anträge wurden besprochen. Sie betreffen Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche, bei denen der Arzt eine Gefahr für den körperlichen oder seelischen Zustand der Frau sieht.
Eigentlich ähneln sich die vorliegenden Gesetzesanträge sehr. Alle fordern bessere Beratungen und Unterstützung für werdende Mütter. Doch seit Jahren schwingen in der Debatte Unterstellungen und unausgesprochene Vorwürfe mit, die die Diskussion auch am Donnerstag im Bundestag so schwierig machten. Handeln Frauen, die ihr behindertes Kind abtreiben, leichtfertig? Raten Ärzte zu oft zu einer Abtreibung? Werden behinderte Babys aus unserer Gesellschaft systematisch aussortiert?
Der CSU-Familienexperte Johannes Singhammer fordert mit einer Gruppe von rund 160 Abgeordneten, dass Ärzte ihre Patientinnen nach einer Pränataldiagnostik umfangreich beraten müssen, sonst drohen 10.000 Euro Strafe. Die Frauen können die Beratung ablehnen. Vor einem Abbruch müssen dann noch drei Tage Bedenkfrist verstreichen. Auch soll eine Statistik erhoben werden, nach der die Fälle dokumentiert werden. "Wir wollen jeden Automatismus zwischen der Eröffnung der Diagnose und einem Schwangerschaftsabbruch vermeiden", sagte Singhammer im Parlament. Neun von zehn Kindern mit Down-Syndrom würden Schätzungen zufolge abgetrieben, so der Unionspolitiker. Man wolle den Frauen aber "keine Lasten aufbürden", betonte Singhammer.
Christel Humme, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, reagierte auf Singhammers Rede verärgert: "Herr Singhammer, Sie setzen die Frauen in Notlagen zusätzlich unter Druck!" Keine Frau entscheide sich leichtfertig für einen Abbruch, deshalb dürfe der Bundestag keine Gesetzesänderung beschließen, die Frauen das unterstelle. "Auch die Drei-Tages-Frist ist völlig willkürlich", sagte Humme. In ihrem eigenen Antrag, der von über 140 Abgeordneten von SPD und Grünen unterstützt wird, wird eine Gesetzesänderung abgelehnt. Vielmehr sollten in Mutterschafts- und ärztlichen Richtlinien Beratungen vor und nach der pränatalen Diagnostik verankert werden. "Gesetzliche Änderungen werden nicht helfen, die gesellschaftlichen Einstellungen zu Behinderten positiv zu verändern."
Die SPD-Familienpolitikerin Kerstin Griese, deren eigener Antrag von fast 50 Abgeordneten aus SPD- und Grünen-Fraktion unterstützt wird, warnte vor einem "Kulturkampf". Niemand wolle den Paragrafen 218 ändern. Ihr Antrag sieht auch eine Bedenkfrist und ärztliche Beratungspflicht vor, allerdings ohne statistische Erfassung der Diagnosen. "Wir sehen die Gefahr, dass dann die Anonymität nicht mehr gewahrt wird", sagte Griese. Sie warnte vor einem Automatismus des Schwangerschaftsabbruchs bei Behinderung. "Man muss ein eindeutiges Zeichen setzen, dass eine Behinderung nicht der Grund für eine Abtreibung sein darf."
Der Antrag der FDP, den Ina Lenke vorstellte, lag inhaltlich nahe an dem der Union - schloss aber die 10.000 Euro Strafe für Ärzte aus. Die Linken sprachen sich gegen eine gesetzliche Änderung, aber für bessere Beratungsangebote aus. Der Vorschlag von Thilo Hoppe (Grüne), eine psychosoziale Zwangsberatung vorzuschreiben, hat noch wenig Unterstützer - auch wenn die Unionsfraktion heftig Beifall klatschte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind