: An den Fenstern zur Straße
Es brauchte den Trend zur Autofiktion, um die Bedeutung dieser Autorin klar herauszustellen. Eine Verneigung vor Emine Sevgi Özdamar zur Verleihung des Büchnerpreises
Von Dirk Knipphals
Ziemlich genau in der Mitte des 2021 erschienenen, großen, überbordenden Romans „Ein von Schatten begrenzter Raum“ spricht die Erzählerin mit ihrer Mutter. „Mutter, ist Istanbul dunkler geworden?“, fragt die Erzählerin. Die Mutter antwortet: „Nein, meine Tochter, deine Augen haben sich an die Deutschlandlichter gewöhnt.“ Doch gleich darauf ergänzt die Erzählerin: „Dann sagte sie: ‚Mein Kind, bleib von den Fenstern zur Straße fern.‘“ Genau diese Szene fand sich, sprachlich etwas abgewandelt, schon in der 1990 erschienenen Erzählung „Mutterzunge“, mit der Emine Sevgi Özdamar über die Theaterszene hinaus, in der sie bereits als Schauspielerin und Dramatikerin aufgetreten war, gleich auch als Prosaautorin bekannt geworden ist.
In der Erzählung heißt es: „Ich fragte sie [= die Mutter] auch, warum Istanbul so dunkel geworden ist, sie sagte: ‚Istanbul hatte immer diese Lichter, deine Augen sind an Alamanien-Lichter gewöhnt.‘“
Emine Sevgi Özdamar zu lesen – und erst recht, über sie schreiben – heißt, mit eigensinnigen Textarchitekturen umzugehen. Die einzelnen Szenen und Abschnitte lesen sich oft zügig und dicht weg. Zwischen ihnen aber gibt es Brüche, überraschende Spiegelungen, immer wieder auch eigenwillige Verknüpfungen und manchmal, wie bei diesen Eingangszitaten, auch Wiederaufnahmen von Szenen und Motiven über drei Jahrzehnte hinweg. Es ist eine sehr direkte, offene Form des Schreibens, die diese Autorin für sich gefunden hat.
Einmal wird im „Vom Schatten begrenzten Raum“ Godard zitiert: „Ich glaube, Jean-Luc Godard hatte gesagt: Wenn man ein Buch liest, gibt es Augenblicke, wo man daran denkt, dass man ein Buch liest, und andere Augenblicke, wo man es vergisst.“ Auf diesen Roman und überhaupt auf das Werk dieser Autorin passt dieses Zitat jedenfalls sehr gut. Hineingezogen in den Erlebnis- und Erfahrungshorizont einer Frau, die viel erlebt und viele Menschen getroffen hat, vergisst man beim Lesen tatsächlich, dass es sich hier um Literatur handelt. Und zugleich wird man durch sprachliche Wendungen – das auffällige Komma im „Mutterzungen“-Zitat vor „sie sagte“ (warum steht da kein Punkt?), die eigenwillige Wortzusammenziehung „Deutschlandlichter“ im „Von Schatten begrenzten Raum“ – immer auch daran erinnert, dass das eben doch Literatur ist. Wenn man Özdamar liest, winkt immer beides: der Erfahrungshintergrund und der Literaturhintergrund.
Auch inhaltlich gibt es in der zitierten Szene eine, wie soll man sagen, blinkende Uneindeutigkeit. Denn zum einen hat die Mutter selbstverständlich recht. Istanbul sieht die Erzählerin in der Szene längst mit Augen, die auch schon andere Städte und Länder gesehen haben. Berlin vor allem, wohin Özdamar als junge Frau in den 60er Jahren und dann noch einmal als Regieassistentin in den 70er Jahren gezogen ist.
Und der Punkt ist: Solche Perspektivierungen durchziehen dieses Schreiben insgesamt. Istanbul wird von Berlin aus beschrieben. Das kalte und noch von zerbombten Häusern bestimmte Berlin wiederum beschreibt Özdamar von einem warmen, quirligen, auch kunstreligiös aufgeladenen Paris aus, wo sie ein paar Jahre lang im Zentrum der französischen Theaterszene sowie der Nouvelle Vague untergekommen ist. Paris seinerseits erhält in Bochum ein Gegenbild, wo sie am damals deutschlandweit wichtigen Schauspielhaus unter Claus Peymann gearbeitet hat, in einer Theaterblase in einer Arbeiterstadt, in der das Ensemble mit Thomas Brasch, Heiner Müller und nach Bertolt Brecht immer auch Nazigespenster jagte.
Zwischendurch immer wieder Istanbul und auch immer wieder Berlin, und zwar beide Berlins – die Mauer scheint in diesem Leben keine große Rolle gespielt zu haben, zwischen West- und Ostberlin wechselte Özdamar in den 70er und 80er Jahren hin und her; Verträge mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz machten es möglich.
Insofern trifft die Mutter in den Zitaten also etwas Zentrales. Und zugleich lenkt sie damit aber auch von etwas ab. Denn dass die Tochter von den Fenstern fernbleiben soll, bezieht sich darauf, dass in der Türkei ein Militärputsch stattgefunden hat; auf den Straßen wird geschossen. In diesem Sinne ist Istanbul also tatsächlich dunkler geworden.
Auch diese Erdung dieser Szene lässt sich in diesem literarischen Werk verallgemeinern. Als Sprachkünstlerin, auch als Spracherneuerin ist Özdamar immer mal wieder beschrieben und gefeiert worden. Zu Recht. Zugleich beziehen sich ihre sprachlichen Wendungen aber stets auch auf konkrete Erfahrungen im Realen. Wie sich das Bohemeleben im Paris der frühen 70er anfühlte, wird bei dieser Autorin ebenso klar wie das Leben in der zugigen Mauerstadt Berlin – was für ein Schock zum Beispiel, wenn man im „Von Schatten begrenzten Raum“ auf Seite 585 auf das Foto eines schrecklich weinenden deutschen Dreijährigen trifft, verbunden mit dem Gedanken, dass man den deutschen Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder beibringen musste, „das Leben zu lieben“. Was für ein aufregendes Exil die europäische Theaterlandschaft einmal gewesen ist, wird ebenso deutlich wie die Enge, die sie letztlich dann auch hatte, inklusive der „schrecklichen Kantinenbouletten“ am Bochumer Schauspielhaus.
„Das Theater ist ein Dialog zwischen Körpern […], auch die Wörter werden zu Körpern“, hat Sevgi Emine Özdamar 1999 in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Chamisso-Preises gesagt. In diesem Sinne hat auch ihre Prosa etwas Körperliches. Sie wirkt nicht wie aufgeschrieben (und ist es natürlich doch, sorgfältig durchgearbeitet), sondern eher wie aufgeführt. Das Schreiben: ein Dialog mit, ein Raum für die eigenen Erfahrungen.
Dass Sevgi Emine Özdamar nun der Büchnerpreis überreicht wird, ist schön. Erklärungsbedürftig ist vielleicht eher, dass es bei der 1946 geborenen Autorin so spät geschieht. Womöglich brauchte es noch den letzten Roman, diese 800 Seiten dicke, massive Summe ihres Schaffens, um ihre Bedeutung deutlich aufs deutschsprachige literarische Feld zu setzen. Aber es brauchte offenbar auch noch etwas anderes: die Nobilitierung von Autofiktion zu einem anerkannten literarischen Genre.
In Deutschland wurde Sevgi Emine Özdamar lange Zeit als Grenzgängerin verstanden und dabei auf einen deutsch-türkischen Kulturaustausch festgelegt. Hinweise darauf, dass diese Schublade viel zu eng für diese Autorin ist, gab es auch immer wieder – im „Begrenzten Raum“ zitiert die Erzählerin einen Artikel von Ingo Arend aus den 90ern, und die Erzählerin selbst merkt an: „Ich fand es auch problematisch, wenn man sagte, ich sei Pionierin oder eine Brücke […]. Ich wollte nur Menschen berühren, zum Lachen bringen, Spaß machen, Momente erleben lassen.“ Doch das Grenzgänger-Narrativ war stark.
Im Kontext der Autofiktion lassen sich die Besonderheiten dieser Autorin viel besser herausstellen. Und man kann etwa darüber nachdenken, ob Özdamar nicht einen Gegenpol zu Annie Ernaux darstellt, der anderen Klassikerin der Autofiktion und zweiten großen Literaturpreisträgerin dieses Herbstes: körperliche Unmittelbarkeit suchende Sprache bei Özdamar gegen sezierende Sprachkälte bei Ernaux. Und vielleicht muss man sich zwischen diesen beiden Polen auch gar nicht entscheiden. Beide haben auf ihre Art das Literarische erweitert.
Sevgi Emine Özdamar jedenfalls hat, wenn man die Literatur einmal als Haus sieht, auf ihre Mutter nicht gehört – sie hat sich von den Fenstern zur Straße nie ferngehalten. Und auf den Straßen war viel los.
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