piwik no script img

Bücher und Revolutionen

■ Eine Ausstellung in der Nationalbibliothek in Paris

Ihr Titel Le Patrimoine libere (in etwa „Das befreite Nationalerbe“) ist eine kuriose Umschreibung - im sprachlichen Pathos der Revolutionäre von 1789 - der historischen Raubzüge, die das Depot der Nationalbibliothek bereicherten. Ein spektakulärer Lieferant waren die französischen Armeen der Revolution, die aus Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Italien wertvolle Manuskripte, Medaillen, Edelsteine und graphische Drucke nach Paris brachten. Mit der Erfahrung wuchs die Systematik der großangelegten Diebstähle, 1796 legte man genaue Listen der erwünschten Gegenstände an. Die Republik Venedig zum Beispiel mußte 500 alte Handschriften „abtreten“.

Neben diesen Kunstsammlern in Uniform sorgte ein (wirklich) revolutionäres Gesetz vom 2.November 1789 für das plötzliche Anwachsen der Bibliotheksbestände. Es erklärte die gesamten Kirchenschätze Frankreichs für nationales Eigentum. Der Klerus wurde damit quasi enteignet. Klosterbibliotheken verloren ihre wohlgehüteten jahrhundertealten Handschriften: Allein aus den Pariser Abteien stammen 13.000 Handschriften der Nationalbibliothek, die das kostbare Erbe verwaltete. Auch die Schätze der königlichen Kapelle von Versailles und der reichen Abtei von Saint-Denis wurden von Beamten geprüft und geplündert. Man holte sich nicht nur Bücher, sondern auch prestigeträchtige Möbel. So kann die Nationalbibliothek heute den berühmten Klappthron des Merowingerkönigs Dagobert aus dem 7.Jahrhundert zeigen.

Es war ein zentralistischer Gedanke, wenn man glaubte, in Paris die Schätze der Nation bündeln zu müssen. Daher wurden auch die Schatzkammern der Kathedralen der Provinz zum Beispiel in Chartres und Metz geleert. Zählt man die Beschlagnahmungen bei aristokratischen Emigranten mit, kamen in zehn Jahren 250.000 Bücher, 14.000 Handschriften und 85.000 graphische Druckblätter zusammen: Ein eher verschwiegenes Kapitel der Sammlungsgeschichte, in das wir hier Einblick erhalten.

Weniger spektakulär, aber ebenso aufschlußreich sind die „normalen“ Eingänge durch Schenkungen, Ankäufe und durch das System des „depot legal“: Jeder Verleger mußte in Frankreich pro gedrucktem Titel ein Exemplar in der Nationalbibliothek deponieren. Das Verfahren diente schon seit 1537 als ein Schutz zum Beispiel von Autoren, Komponisten und Zeichnern, deren Werke vervielfältigt wurden, vor Fälschung.

Die Publikationen der Zeit von 1789 bis 1799, die so Eingang in die Nationalbibliothek fanden, spiegeln Richtungen, die das Interesse der Öffentlichkeit nahm: Musikalische Veröffentlichungen lagen vorne auf dem Editionsmarkt der nachrevolutionären Jahre. Sie bedienten den Musikbedarf (zum Beispiel La Marseillaise) der häufigen patriotischen Feiern oder folgten einfach den Dauermoden etwa der Komischen Opern, aus denen Extrakte verlegt wurden. Die (relative) Pressefreiheit provozierte eine Flut von politischen Zeitungen, Flugblättern und Almanachen. Hier registrierten die Bestandslisten der Bibliothekskabinette einen Anstieg der Karikaturen, Portäts und allegorischen und historischen Szenen, in denen Aktualitäten - oft in satirischer Form - verarbeitet wurden.

Weitgehend kontinuierlich publizierte der Wissenschaftsbetrieb der Aufklärung (zum Beispiel Philippe F. de Puisieux: „La femme n'est pas inferieure a l'homme“), erschienen naturhistorische und landwirtschaftliche Fachbücher und blieb der Reiseroman eine beliebte Form zeitgenössischer Literatur. Die Revolution markierte hier keinen radikalen Bruch. Auch königliche Literaturvorlieben dokumentiert die Ausstellung: 1792 wurde die Privatbibliothek der Marie-Antoinette aus den Tuilerien aufgelöst, auf ihrem Nachttisch lag La Folle Journee ou Le Mariage de Figaro vom Erfolgsautor Beaumarchais. Ihr Sohn, der Dauphin, lernte das Lesen immerhin mit Cervantes‘ Don Quichotte. Die handliche Kinderausgabe liegt im Schaukasten. Und man fragt sich im Vorübergehen, ob es da einen heimlichen Zusammenhang gibt: Der Prinz, der mit Cervantes‘ Denkmal der Vergeblichkeit Lesen lernte, wurde als Zehnjähriger von einem Jakobiner, dem Schuster Simon, umgebracht. Weltliteratur schützt nicht vor Revolutionen.

Jan Nicolaisen

Paris, Bibliotheque Nationale, noch bis zum 10.September 1989

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen