Buchempfehlungen von Harald Welzer : Welzer liest
Krise der Demokratie, Totalitarismus und Zahlen des Grauens. Die Gegenwart gibt viel Grund zur Weltflucht. Der taz FUTURZWEI Herausgeber empfiehlt drei scharfsinnige politische Studien zur Wappnung.

taz FUTURZWEI | Anmerkung der Redaktion: Welzer liest gerade keine aktuellen Bücher, sondern pflegt aus psychohygienischen Gründen Weltflucht mit Thomas Mann. Aber aus diesem Mangel an aktueller Literaturkritik macht er eine Tugend, indem er auf Titel hinweist, die zwar schon älter sind, aber zum Verständnis dessen beitragen, in welch eminent gefährlicher Lage sich Demokratie und Rechtsstaat auch in Europa und Deutschland befinden.

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. DVA 2001 – 239 Seiten, 15,95 Euro
Haffner schreibt dieses Buch in der Echtzeit des sich formierenden nationalsozialistischen Staates und macht auf ganz einzigartige Weise das sich um und mit ihm vollziehende Geschehen einer radikalen Veränderung gesellschaftlicher und moralischer Standards nachvollziehbar.
Wer dieses Buch liest, versteht, wie schnell und radikal sich die Einstellungen und Überzeugungen ganz normaler Menschen zu verändern beginnen, wenn ein faschistisches Regime eine neue Räson mit Mitteln von Propaganda, Gewalt und Ausgrenzung einerseits und Belohnungen, Aufwertungen und Eingrenzung andererseits zu etablieren beginnt.
Wenn wir von dort aus in die Gegenwart blenden und die vor und nach dem Wahlkampf propagierte Auffassung betrachten, es gäbe im Land kein drängenderes Problem als die Grenzsicherung und als müsse alle politische Aufmerksamkeit sich um das Thema „Migration“ zentrieren, sieht man live und in Farbe den politischen Mechanismus, den Haffner am Beispiel der „Judenhetze“ beschreibt.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Was für die Demokratie dabei wirklich gefährlich wird, ist das Einwandern von Begriffen, Themen und Deutungen in die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen, die zuvor als extrem betrachtet wurden – Begriffsbildungen wie „massenhaft abschieben“, „hat hier nichts zu suchen“, „müssen weg“, „kann nicht mehr geduldet werden“ markieren die fatale Mechanik von Eingrenzung und Ausgrenzung, die der Kern von faschistischer Zustimmungserzeugung sind.
Indem die Nazis, schreibt Haffner, „irgendjemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, dass nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d. h. in Frage gestellt wurde.
Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum Besten zu geben. Man machte feine Unterscheidungen zwischen ‚anständigen‘ Juden und anderen; wenn die einen, gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür? Wogegen? – ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie -hätten Wissenschaft, Kunst, Medizin ‚überfremdet‘“. Trotz aller judenfeindlicher Aktionen ergab sich keine „Antisemitenfrage“ oder „Nazifrage“ im Deutschland jener Jahre, sondern, im Gegenteil, eine „Judenfrage“.
Nicht die Angreifer der Demokratie und des Rechts erscheinen als Problem, sondern deren potenzielle Opfer.

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. DVA 2018 – 320 Seiten, 22 Euro
Demokratie setzt voraus, dass die politischen Akteure sich nicht nur an formales Recht, sondern auch an ungeschriebene Regeln halten.
Schon der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte auf das Paradox des freiheitlichen Staates hingewiesen, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Tragend für jede Demokratie ist mithin eine verbreitete moralische Substanz, und zu deren Aufrechterhaltung kommt besonders der politischen Klasse Verantwortung zu.
Levitsky und Ziblatt weisen zunächst darauf hin, dass seit dem Ende des Kalten Krieges „die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht worden“ sind – wie aktuell in den USA zu besichtigen.
Diese Zusammenbrüche werden regelmäßig durch dieselben Strategien eingeleitet: Gewählte Regierungen entmächtigen nach dem Antritt der Regierungsämter systematisch die Institutionen der Gewaltenteilung, insbesondere die unabhängige Gerichtsbarkeit, monopolisieren die Medien und delegitimieren die Opposition.
Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik taz FUTURZWEI.
Voraussetzung dafür ist wiederum die Aufkündigung des ungeschriebenen Konsenses, dass die konkurrierenden Parteien nicht als Antagonisten, sondern als Wettbewerber innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens betrachtet werden und sich auch so verhalten.
Am Beispiel der Republikanischen Partei, die hierzulande offenbar Vorbildwirkung auf die ehemals konservativen christlichen Parteien entfaltet, lässt sich sehen, wie dieser Konsens sukzessive aufgegeben und durch eine Politik der Feindseligkeit ersetzt wurde, in der Personalisierungen und das konsequente Ausnutzen von nicht strafbewehrten Regelverletzungen an der Tagesordnung sind: „Hätte vor 25 Jahren jemand von einem Land gesprochen, in dem Politiker ihren Rivalen androhen, sie ins Gefängnis zu werfen, politische Gegner die Regierung beschuldigen, die Wahl zu manipulieren oder eine Diktatur einzuführen, und Parteien ihre Parlamentsmehrheit nutzen, um Präsidenten ihres Amts zu entheben und die Besetzung von Richterposten zu verweigern, hätte man wahrscheinlich an Ecuador oder Rumänien gedacht, aber bestimmt nicht an die Vereinigten Staaten.“
Geschrieben vor sieben Jahren; nun wirkt die damalige Situation in den USA im Vergleich zur heutigen geradezu idyllisch.

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. (Erstauflage 1951) Piper 2023 – 1.168 Seiten, 28 Euro
Es gibt kein Beispiel politischer Theorie, das deutlicher zeigt, was die Voraussetzung des Erfolgs faschistischer und populistischer Parteien ist: die Einsamkeit der isolierten und „auf sich selbst und nichts sonst zurückgeworfenen Individuen“.
Es sei die „Heimatlosigkeit“ der Menschen, deren Zugehörigkeitsbereitschaft alle Widersprüche und Absurditäten ignoriert, die von Populisten jeder Couleur in ihrer Version der Wirklichkeit verbreitet werden. Es ist die Zerstörung einer „gemeinsamen Welt“ und einer gemeinsamen Wirklichkeit, die die Voraussetzung der Zerstörung von Demokratie bildet.
Statt diesen auch heute gültigen Befund zur Kenntnis zu nehmen, konstruiert man in der ehemaligen politischen Mitte Migrationsängste, die zu bekämpfen das geeignete Mittel seien, um die Demokratiefeinde zu stoppen.
🐾 Lesen Sie weiter: Die neue Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI N°34 mit dem Titelthema „Zahlen des Grauens“ gibt es jetzt im taz Shop.