Buch zur Geschichte des Meeres: Ist das Meer schön?
Der Germanist Dieter Richter ergründet mit „Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft“ eine marine Kultur. Leider bleibt er eurozentristisch.
„Eine rohe, gestaltlose Masse, nichts als träges Gewicht“, so beschreibt Ovid in seinen „Metamorphosen“ die amorphe Urmaterie, aus der einst Meer und Land entstanden sein sollen. Mit der „Scheidung des Festen vom Flüssigen“, wie der römische Dichter am Anfang unserer Zeitrechnung den Ursprung der Welt umreißt, lässt der emeritierte Germanistikprofessor Dieter Richter seine Geschichte des Meeres beginnen.
Als studierter Altphilologe und Theologe strukturiert Richter sein Werk damit ziemlich genau nach den Kompetenzbereichen, die er beherrscht. Hierfür zieht er neben römischen Schöpfungsmythen auch solche von griechischen Dichtern und Denkern der Antike, aus der Bibel oder aus der ägyptischen Kosmogonie heran.
An zahlreichen lebendig skizzierten kulturellen Zeugnissen zeigt der Autor, wie sich Menschen zumeist in der abendländischen Tradition seit dem Altertum mit dem Meer, sich selbst und Fragen nach Entstehen und Sein beschäftigt haben. Hatte das Meer einen Anfang, und wird es ein Ende haben? Wie ist das Salz ins Meer gekommen? Warum wird das Meer nicht voller, obwohl alle Wasser in es hineinlaufen? Und schließlich: Ist das Meer schön?
Dieter Richter: „Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft“. Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 236 Seiten, 24,90 Euro
Die Angst des Menschen vor der Urgewalt des Meeres behandelt Richter genauso wie die Faszination, die von ihm ausgeht und die im Zeitalter der Aufklärung bei Kant oder Schiller in der Ästhetik des „Erhabenen“ verarbeitet wurde: das Meer als „großer Schauplatz der Freiheit“.
Farbe der Sehnsucht
Dabei scheinen die kulturhistorischen Quellen, aus denen Richter schöpft, mit Fortschreiten der behandelten Jahrhunderte immer dichter beieinanderzuliegen. Zur Veranschaulichung des Schreckens, den die See für die Menschen des Altertums geborgen haben mochte, greift der Autor noch relativ weit aus auf babylonische Quellen wie die akkadischen Tontafeln von Mari am Euphrat (ca. 1750 v. Chr.) oder das „Gilgamesch-Epos“ (vermutlich im 3. Jahrtausend v. Chr. entstanden).
Schön liest sich hier der Blick aufs Meer mit „den Augen der Alten“ (Fernand Braudel). Richter zeigt, wie die antike Todesfurcht vor dem schier endlosen Wasser in Farbadjektiven der „Ilias“ und der „Odyssee“ zum Ausdruck kommt. „Das Meer der ’Alten‘ trug düstere Farben“, „Grau“, „Schwarz“, „Dunkelbraun“ oder „Weinfarben“. In der englischen Romantik wird es hingegen mit Blau, der „Farbe der Sehnsucht, der Unendlichkeit und der Poesie“, assoziiert. Die Veränderungen in der kollektiven Farbwahrnehmung führt Richter auf eine sich ändernde Gefühlslage des Menschen zurück, die sich auch in seiner Beziehung zum Meer niederschlägt.
Ob dunklere Farben wie Grau oder „Weinfarben“ schon immer mit einer Semantik der Bedrohung verbunden waren, wie Richter dies annimmt, ist allerdings zu hinterfragen. Dass das Verhältnis des antiken Menschen zu großen Gewässern nicht ausschließlich von Furcht geprägt war, zeigt der Abschnitt „Meerblick aus römischen Villen“. Hier steht die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Meer im Zentrum, wie sie lange vor der Empfindsamkeitskultur des 18. Jahrhunderts stattgefunden hat.
Je näher die Neuzeit rückt, desto stärker verengt sich die Perspektive von der über weite Strecken europäischen, um nicht zu sagen eurozentrischen Sichtweise bis hin zum „deutschen Mittelmeer“ im 19. und 20. Jahrhundert. Der 76-jährige Richter vermeidet dabei konsequent das Risiko, den bildungsbürgerlichen europäischen Kanon von Literatur und Malerei zu überwinden oder auch nur zu hinterfragen. Auch auf andere Gewässer als das Mittelmeer wagt sich der Autor kaum.
Die Deutschen markieren die Endpunkte
Dadurch konstruiert er in etwas altbackener Weise eine mitteleuropäische Identität, die sich in direkter Linie auf die antiken Hochkulturen der mediterranen Nordküste zurückführen lässt. Er folgt so einem Geschichtsverständnis, das der US-Politikwissenschaftler Benedict Anderson Anfang der achtziger Jahre mit dem Begriff der „Imagined Communities“ oder „erfundenen Nation“ kritisierte.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die teleologisch wirkenden Zeitsprünge zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit innerhalb eines Kapitels oder sogar eines Abschnitts – in der chronologischen Ordnung markieren fast immer die Deutschen den Endpunkt.
Obwohl das Buch den Untertitel „Geschichte der ältesten Landschaft“ trägt, wird schnell klar, dass es Richter entgegen seiner einleitenden methodischen Ausführungen tatsächlich nicht um eine topografische Kulturgeschichte geht, wie sie etwa von David Abulafia gerade unter dem Titel „Das Mittelmeer: Eine Biographie“ auf Deutsch erschienen ist.
Weder spielt die Alltagskultur der Bevölkerungsgruppen rund um das Mittelmeer eine Rolle, noch stehen Ereignisse aus der Geschichte wirklich im Zentrum. Manche Schilderungen werden zwar mit Fakten aus historischen Quellen unterfüttert. Viel größeres Gewicht aber hat die See als kunsthistorisches Motiv. Im Gegensatz zu Abulafia interessiert Richter also weniger der Mensch rund ums Meer, als vielmehr das Meer im menschlichen Zeichensystem.
Blick aufs Meer ist nicht gleich Horizonterweiterung
Eine Ausnahme bilden die Passagen über die Insel als „klassisches Laboratorium der Kultur“ bei der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden. Das negative Ergebnis eines solchen Laboratoriums sieht der Autor in der „Insel auf der Insel“. Sie entsteht vor allem durch den Massentourismus aus Deutschland nach Mallorca oder Capri und dem damit verbundenen Export der deutschen Kultur wie Würstchen und Bier. Hier kann Richter überzeugend darlegen, dass „der Blick aufs Meer nicht unbedingt auch Horizonterweiterung schenkt“ und Imaginationen des Meeres aus der Ferne bisweilen die zu bevorzugende Art der Aneignung darstellen.
Als produktive Kulturräume begreift der Autor Inseln aufgrund ihres transitorischen Potenzials und des ständigen kulturellen Austauschs durch Seefahrt, Handel oder Reise. Hierdurch trügen Inseln oft ausgesprochen kosmopolitische Züge. Dies liege in ihrem Wesen begründet, das „zwischen Isolation und Weltoffenheit, den konträren Polen von ’Archaismus und Innovation‘ (Fernand Braudel)“ oszilliere.
Bewährte Dichotomien
Die Tendenz, zur Erklärung von Entstehung, Entwicklung und Austausch wie hier auf Dichotomien zurückzugreifen, zieht sich durch das gesamte Werk: süß und salzig, fest und flüssig oder archaisch und innovativ. Oftmals geben komplementäre Begriffspaare die Strukturen von Richters Meeresgeschichte vor und lassen das, was sich zwischen den Polen als Kultur abspielt, damit unterkomplex erscheinen. Ganz im kulturwissenschaftlichen Trend liegt Richter nicht nur mit der Raumthematik, sondern auch mit Diskursen über den Körper, die er etwa im Zusammenhang mit gesundheitlichen Aspekten der Badekultur heranzieht.
So skizziert er die Entwicklung von der wasserfeindlichen Haltung des Mittelalters unter anderem anhand der medizinischen Traktate des persischen Arztes Ibn Sina (besser bekannt als Avicenna) und kommt über ein Revival des Bades in der Renaissance zur Entwicklung der marinen Aquakultur im 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen der „Kurbäder“.
Richters Buch endet in Anlehnung an den „Ecocriticism“ mit einem kritischen Ausblick auf die ökologischen Auswirkungen des menschlichen Umgangs mit der Natur: Müllverschmutzung, Überfischung, Klimawandel.
Allerspätestens an dieser Stelle hätte sich die Leserin gewünscht, dass auch mal Schriftsteller zu Wort kommen, die nicht wie Hemingway mit „Der alte Mann und das Meer“ (1952) zum westlichen Standardrepertoire gehören.
Der große türkische Autor Yaşar Kemal beispielsweise schildert in „Zorn des Meeres“ (1978) eindrucksvoll das Massaker an Delfinen durch geldgierige Fischer im Marmarameer und hat sich in seinen Werken viel mit dem Meer auseinandergesetzt. Er und andere hätten es verdient, wenigstens genannt zu werden. Richters kulturgeschichtlicher Blick auf das Meer erscheint so leicht redundant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?