Buch über Wehrmachtsverbrechen: Und die Erde fing Feuer
In den 1970ern protokollierten drei Autoren Wehrmachtsverbrechen im heutigen Belarus. Ihre mit Prosa garnierten Berichte sind nun auf Deutsch erschienen.
Es braucht keine großen Worte, um vom Grauen einer vernichteten Existenz zu erzählen. „Das Dach brennt schon. Verbrennt ganz. Und die zwei Deutschen stehen da. Wie blaue Säulen. Und die Wände fangen Feuer. Und dann fängt die Erde Feuer. Das Grünzeug da fängt Feuer, beim Schuppen. Und ich lieg mittendrin.“
So erzählt Barbara Adamaŭna Slessartschuk davon, wie Wehrmachtssoldaten während des Zweiten Weltkrieges ihr Heimatdorf Babrowitschy im heutigen Belarus stürmten und niederbrannten.
Während der Besatzungszeit zwischen 1941 und 1944 ermordeten die Nationalsozialisten dort Historiker:innen zufolge rund zwei Millionen Menschen. Slessartschuk überlebte, genauso wie rund 300 weitere Augenzeug:innen, die ihre Geschichten im nun erstmals auf Deutsch erschienenen Buch „Feuerdörfer“ erzählen.
Die Autoren Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik reisten Anfang der Siebzigerjahre durch das ehemalige Besatzungsgebiet und suchten das Gespräch mit Menschen, die von dieser Zeit berichten konnten. Die Überlebenden erzählten ihnen von Verbrechen grausamen Ausmaßes. Davon, wie die Bewohner:innen der Dörfer in Scheunen zusammengetrieben und die Gebäude angesteckt wurden.
Ales Adamowitsch, Janka Bryl, Uladsimir Kalesnik: „Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten“. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Aufbau Verlag, Berlin 2024, 587 Seiten, 39 Euro
Andernorts waren die Menschen vor ihren Häusern reihenweise erschossen worden. So berichtet Andrej Jauchimawitsch Kuratnik: „Ein Sohn ist mir geblieben. Unter den Leichen. Meine Mutter ist, als sie sie erschossen haben, auf ihn gefallen, hat ihn etwas verdeckt. Er wurde seitlich am Bauch erwischt.“
Lückenhafte Zeugenaussagen
Anders als in fiktiven Erzählungen, die den Krieg in den besetzten Gebieten des heutigen Belarus’ verhandeln, brachte das 1975 in der Sowjetunion erschienene Buch „Feuerdörfer“ die Kriegserfahrungen erstmals in Rohform zusammen, als direkte Zitate von Überlebenden. Die Menschen sprechen darin, wie sie wohl tatsächlich erzählten: selten geradlinig, sondern lücken- und sprunghaft, eben ihrer persönlichen Erinnerung folgend.
„Die Menschen werden so dargestellt, wie sie einem begegnen, mit all ihren Traumata“, sagt Thomas Weiler, der das Buch nun ins Deutsche übersetzt hat. Diese Nahbarkeit macht die Lektüre auch heute, fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, berührend und an vielen Stellen nur schwer ertragbar.
Gespickt sind die Zitate der Augenzeug:innen mit kurzen Prosastücken der Autoren. Darin beschreiben sie mitunter sehr persönlich die Orte und Begegnungen ihrer vierjährigen Recherche. Aus heutiger Sicht, wo das geschichtswissenschaftliche Konzept der Oral History mittlerweile durchaus als institutionalisiert gilt und Quellen möglichst für sich stehen sollen, wirken einige Kommentare pathetisch und wenig distanziert.
Über die Klagen einer Frau aus dem Dorf Chwojnja heißt es etwa: „Es ist wahr, Sie sind ein Gemütsmensch, Wolha Andrejeuna! Und so gut und schön Sie heute auch leben mögen – Sie werden niemals das alles vergessen können, was war.“
„Wurzelbuch“ des dokumentarischen Erzählens
Ohne diese Kommentare hätte das Buch nicht erscheinen können, sagt Irina Scherbakowa, „man muss das Buch als Produkt seiner Zeit sehen.“ Die Kulturwissenschaftlerin ist Gründungsmitglied der mittlerweile in Russland verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Zusammen mit Thomas Weiler und weiteren Gästen stellte sie das Buch Ende letzten Jahres in Berlin vor.
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs sei im stalinistischen Moskau ausschließlich als sowjetische Held:innengeschichte erzählt worden. Das individuelle Leid, das der Krieg für die Menschen bedeutete, habe darin keinen Platz gefunden. Weil „Feuerdörfer“ dieses an die Öffentlichkeit brachte, bezeichnet Scherbakowa den Text als ein „Wurzelbuch“ für das dokumentarische Erzählen.
Auch wenn die Kommentare aus historischer Sicht heute zu vernachlässigen sind, eröffnen sie eine Möglichkeit, das Buch als mehr als eine reine Stimmensammlung zu lesen. So beschreiben die Autoren zum Beispiel, wie sie eine Gruppe von Frauen auf den Krieg ansprechen: „‚Im Krieg war ja hier bei Ihnen …‘ Und die Frauen erklären lauthals, scheinbar im selben Tonfall: ‚Ja, ja, und wie, da ist keiner unbeschadet davongekommen!‘ Doch schon sind einige Gesichter nicht mehr ganz anwesend. Das merkt man sofort. Zuerst sieht man es an den Augen, die irgendwo hängengeblieben sind, in der Vergangenheit.“
Folgt man dem Autorentrio wie einer Figur, die selbst erlebt, mitfühlt, in Bann gezogen und überrascht wird, entfaltet sich in den Prosastücken die literarische Qualität des Textes. Trotz ihres bisweilen salbungsvollen Tones zeichnen sie ein feinfühliges Bild und ziehen die Leserin hinein in die Szenen, in denen einem die raue, nüchterne Gewalt umso härter entgegenschlägt.
Psychologische Wahrheit
Adamowitsch, Bryl und Kalesnik begriffen ihr Schreiben als das Vermitteln einer Wahrheit: „Die Wahrheit dieser Erzählungen ist zuallererst eine psychologische. […] So nah kommt die Erinnerung dem grausigen Geschehen und führt es einem so abrupt, so unvermittelt in Großaufnahme vor Augen, dass man selbst quasi zum Zeugen wird, nicht Zuhörer oder Zuschauer, sondern Zeuge des Geschehens.“
In Abschnitten wie diesem zeigt sich ein Selbstverständnis dreier Autoren, die ihr Publikum nicht nur trotz der Zensur informieren, sondern sie persönlich mit der Geschichte konfrontieren wollten, so wie es die Literatur bestenfalls kann. Sie zielten ab auf ein individuelles Bewusstsein, das den Interessen jedes totalitären Regimes naturgemäß zuwiderläuft. Dies gelingt, weil sie sich an ihre Leser:innen weniger als Historiker und vielmehr als Schriftsteller wenden.
Zwar ist heute der Zugang zu Informationen über Gewaltverbrechen oftmals leichter geworden, denkt man etwa an die Bilder aus Butscha oder Teheran, die sich über die sozialen Medien massenhaft verbreiteten. Aber die Fragen nach ihrer Aufarbeitung sind weiter umkämpft: Was passiert mit diesen Informationen? Wie und durch wen finden sie irgendwann ihren Weg in das öffentliche Gedenken, in die Erinnerungskultur, in die Forschung? Adamowitsch, Bryl und Kalesnik würden vielleicht antworten: über die Bücherregale der Menschen.
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